BGH: Die Beweisführung einer Partei darf von dieser während des Gerichtsverfahrens jederzeit geändert (auch berichtigt) werden

veröffentlicht am 3. Juni 2013

Rechtsanwältin Katrin ReinhardtBGH, Beschluss vom 06.02.2013, Az. I ZR 22/12
Art. 103 Abs. 1 GG

Der BGH hat darauf hingewiesen, dass eine Partei nicht daran gehindert ist, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag könnten allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei laufe auf eine prozessual unzulässige vorweg genommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstoße damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Zum Volltext der Entscheidung:

Bundesgerichtshof

Beschluss

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 06.02.2013 durch … beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 02.01.2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 51.772,44 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin ist Transportversicherer der B. O. GmbH in Wiesbaden (im Weiteren: Versicherungsnehmerin). Sie nimmt das beklagte Paketdienstunternehmen wegen des Verlustes von Transportgut aus abgetretenem und übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin auf Schadensersatz in Anspruch.

Die Versicherungsnehmerin beauftragte die Beklagte im Oktober 2007 mit der Beförderung einer aus zehn Paketen bestehenden Sendung von ihrem Unternehmenssitz zu einem in London/Großbritannien ansässigen Empfänger. Die Sendung, deren Wert die Versicherungsnehmerin nicht deklariert hatte, sollte an einen C. P. in London, , ausgeliefert werden. Dem Transportauftrag lagen die Beförderungsbedingungen der Beklagten (Stand 2007) zugrunde, die unter anderem folgende Regelung enthielten:

10. Zustellung
Die Zustellung von Sendungen erfolgt an den Empfänger oder sonstige Personen, von denen nach den Umständen angenommen werden kann, dass sie zur Annahme der Sendungen berechtigt sind. Hierzu zählen insbesondere in den Räumen des Empfängers anwesende Personen und Nachbarn. (…).

Die Klägerin hat behauptet, die aus zehn Paketen bestehende Sendung, die Fotokameras und Zubehör im Gesamtwert von 51.772,44 EUR enthalten habe, sei bei dem bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. nicht angekommen.

Die Klägerin hat die Beklagte wegen des angeblichen Verlustes auf Schadensersatz in Höhe des behaupteten Warenwerts nebst Zinsen in Anspruch genommen.

Die Beklagte hat sich demgegenüber auf eine ordnungsgemäße Ablieferung des Frachtgutes berufen. Sie hat vorgetragen, der Zustellfahrer ihrer britischen Schwestergesellschaft habe die Sendung an den Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers, Ch. P. , übergeben, der im selben Haus neben dem bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. wohne. Der bestimmungsgemäße Empfänger habe seinen Bruder zur Entgegennahme der Sendung bevollmächtigt. Die komplette Sendung sei an den bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. weitergeleitet worden, so dass eine ordnungsgemäße Ablieferung des Gutes erfolgt sei. Zum Beweis für ihren Vortrag hat die Beklagte den Zustellfahrer und den Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers als Zeugen benannt.

Das Landgericht hat der Klage ohne Erhebung des angebotenen Zeugenbeweises stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 3 ZPO) und auch im Übrigen zulässig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht das Verfahrensgrundrecht der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.

1.
Das Berufungsgericht hat gemeint, die Beklagte habe sowohl zur Übergabe der Sendung vom Zustellfahrer an den Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers als auch zur Weitergabe an den Adressaten des Gutes keine Einzelheiten zu den näheren Umständen dargelegt. Der Vortrag der Beklagten dazu, an wen der Zustellfahrer die Pakete übergeben habe, sei zudem widersprüchlich. Aber auch dann, wenn die Darstellung der Beklagten als richtig unterstellt werde, ergebe die Übergabe der Sendung an „Ch. P. “ keine ordnungsgemäße Ablieferung im frachtrechtlichen Sinne. Soweit die Beklagte vorbringe, „Ch. P. “ sei befugt gewesen, Sendungen für seinen Bruder in Empfang zu nehmen, handele es sich nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern um die Äußerung einer Rechtsansicht, die keiner Beweiserhebung zugänglich sei. Eine Bevollmächtigung habe die Beklagte nicht substantiiert dargelegt. Ebenso wenig habe Veranlassung bestanden, Beweis zu der Behauptung der Beklagten zu erheben, „Ch. P. “ habe die Sendung an den bestimmungsgemäßen Empfänger C. P. weitergegeben. Die Beklagte habe keine Angaben zum Zeitpunkt der Weitergabe gemacht, so dass der Verfügungsberechtigte gemäß Art. 20 Abs. 1 CMR nach Ablauf der in dieser Bestimmung genannten Fristen das Gut als verloren ansehen und Schadensersatz wegen Verlustes (Art. 17 Abs. 1 CMR) verlangen könne.

2.
Die Nichtzulassungsbeschwerde sieht mit Recht eine Verletzung des Verfahrensgrundrechts der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG darin, dass das Berufungsgericht ihr Vorbringen zur ordnungsgemäßen Zustellung der Warensendung unberücksichtigt gelassen hat, ohne den Beweisangeboten der Beklagten nachzugehen.

a)
Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2010 VIII ZR 212/07, NJWRR 2010, 1217 Rn. 10; Beschluss vom 19. Januar 2012 V ZR 141/11, juris Rn. 8 mwN). Das gilt auch dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots darauf beruht, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag einer Partei gestellt hat. Es verschließt sich in einem solchen Fall der Erkenntnis, dass eine Partei ihrer Darlegungslast schon dann genügt, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Eine solche nur scheinbar das Parteivorbringen würdigende Verfahrensweise stellt sich als Weigerung des Berufungsgerichts dar, in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise den Parteivortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm inhaltlich auseinanderzusetzen (BGH, Urteil vom 22. Juni 2009 II ZR 143/08, NJW 2009, 2598 Rn. 2).

b)
So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht hätte die von der Beklagten zum Auslieferungsvorgang benannten Zeugen K. und Ch. P. vernehmen müssen. Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Auslieferung der aus zehn Paketen bestehenden Sendung an den im selben Haus wohnenden Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers C. P. erfolgt sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist mit Recht darauf hin, dass dieser Vortrag klar und widerspruchsfrei ist. Seine gegenteilige Auffassung stützt das Berufungsgericht auf den Umstand, dass es in der Zustellinformation (Anlage B 1) heißt „Die Sendung wurde an Herrn/Frau CA. wie folgt unterschrieben:“. Das Berufungsgericht hat bei seiner Beurteilung nicht genügend beachtet, dass die von ihm angenommene Widersprüchlichkeit nicht die Schlüssigkeit des Vortrags der Beklagten zur Auslieferung der Ware an den Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers C. P. beseitigt. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden (BGH, Urteil vom 1. Juli 1999 VII ZR 202/98, NJWRR 2000, 208; MünchKomm.ZPO/Wagner, 4. Aufl., § 138 Rn. 9; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 34. Aufl., § 138 Rn. 6). Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Februar 2009 1 BvR 1232/07, NJW 2009, 1585 Rn. 21 f.; BGH, Beschluss vom 19. November 2008 IV ZR 341/07, RuS 2010, 64 Rn. 3; Beschluss vom 19. Januar 2012 V ZR 141/11, juris Rn. 8).

Ohne Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen konnte das Berufungsgericht daher nicht verlässlich beurteilen, ob die streitgegenständliche Sendung wie von der Beklagten behauptet an den im selben Haus wohnenden Bruder des bestimmungsgemäßen Empfängers übergeben wurde und welche Bedeutung dem Eintrag „CA. “ in der Zustellinformation zukommt.

c)
Die weitere Begründung, mit der das Berufungsgericht die Darlegung einer wirksamen frachtrechtlichen Ablieferung der Sendung durch die Beklagte verneint hat, verletzt die Beklagte ebenfalls in ihrem Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

aa)
Die Beklagte hat unter Beweisantritt (Zeugnis Ch. P. ) vorgetragen, die Sendung sei an den bestimmungsgemäßen Empfänger ordnungsgemäß zugestellt worden, da Ch. P. befugt gewesen sei, für seinen Bruder C. P. Pakete entgegenzunehmen. Er habe die streitgegenständliche Sendung auch an seinen Bruder C. P. weitergegeben.

Das Berufungsgericht hat gemeint, der von der Beklagten angebotene Beweis habe nicht erhoben werden müssen, weil die Beklagte eine Bevollmächtigung von Ch. P. nicht substantiiert dargelegt und auch keine Angaben dazu gemacht habe, wann die Weitergabe erfolgt sei.

bb)
Damit hat das Berufungsgericht ebenfalls verfahrensfehlerhaft überspannte Anforderungen an den Vortrag der Beklagten gestellt. Es hat von der Beklagten zu Unrecht eine weitere Präzisierung ihres Vortrags zur Bevollmächtigung von Ch. P. und zur Weitergabe des Gutes an den bestimmungsgemäßen Empfänger innerhalb der in Art. 20 Abs. 1 CMR genannten Fristen verlangt.

Das Berufungsgericht hat nicht genügend beachtet, dass die Beklagte weder an der Bevollmächtigung von Ch. P. noch an der Weitergabe der Pakete an den bestimmungsgemäßen Empfänger mitgewirkt hat. Sie ist daher nicht in der Lage, aus eigener Wahrnehmung Einzelheiten zu diesen Vorgängen vorzutragen. Unter solchen Umständen wird es einer Partei häufig nicht erspart bleiben, im Zivilprozess Tatsachen zu behaupten, über die sie keine genaue Kenntnis haben kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 2002 IX ZR 177/99, NJWRR 2002, 1419, 1420; MünchKomm.ZPO/Wagner aaO § 138 Rn. 9; Prütting in Prütting/Gehrlein, ZPO, 4. Aufl., § 138 Rn. 4). Unzulässig wird ein solches prozessuales Vorgehen erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH, NJWRR 2002, 1419, 1420). Davon kann im Streitfall mangels tatsächlicher Anhaltspunkte nicht ausgegangen werden. Mithin hätte das Berufungsgericht den Beweisantritt der Beklagten berücksichtigen und den Zeugen Ch. P. vernehmen müssen.

3.
Die Rüge der Nichtzulassungsbeschwerde, das Berufungsgericht habe auch bei seinen Darlegungen zu den Inhalten der Pakete das Verfahrensgrundrecht der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, hat dagegen keinen Erfolg.

a)
Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet, dass das Landgericht die Aussage des im Wege der Rechtshilfe vernommenen Zeugen N. zu der Frage verwertet hat, ob keines der zehn angeblich verlorengegangenen Pakete Waren im Wert von mehr als 7.500 € enthalten habe. Sie rügt, die Beklagte sei nicht davon in Kenntnis gesetzt worden, dass im Beweisaufnahmetermin vom 1. März 2011 zusätzlich zu dem im Beweisbeschluss des Landgerichts vom 14. Dezember 2010 benannten Zeugen G. der Zeuge N. habe vernom men werden sollen. Die Beklagte habe das Verfahren des Rechtshilfegerichts beanstandet und eine verspätete Benachrichtigung über die Nachbenennung und beabsichtigte Vernehmung des Zeugen N. gerügt.

b)
Mit diesem Vorbringen hat die Nichtzulassungsbeschwerde keinen entscheidungserheblichen Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG dargelegt. Das Berufungsgericht hat seine Annahme, kein Paket habe Waren mit einem die Verbotsgutgrenze von 50.000 US-Dollar übersteigenden Wert enthalten, auch auf den Gesamtwert des Gutes (51.772,44 €) und die Anzahl der Pakete (zehn) gestützt. Gegen diese plausible Feststellung hat die Nichtzulassungsbeschwerde keine konkreten Einwände erhoben, so dass offenbleiben kann, ob die Vorinstanzen die Aussage des Zeugen N. nicht hätten verwerten dürfen.

III.
Der angefochtene Beschluss beruht danach auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung gelangt wäre, wenn es die von ihr benannten Zeugen vernommen hätte.

Vorinstanzen:
LG Düsseldorf, Urteil vom 09.06.2011, Az. 31 O 48/10
OLG Düsseldorf, Urteil vom 02.01.2012, Az. I-18 U 149/11

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