EuGH-Generalanwalt: Internetsperren verletzen Grundrechte der EU-Bürger

veröffentlicht am 15. April 2011

Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge vom 14.04.2011, Az. C-70/10

Der EuGH hat in obiger Angelegenheit folgende Pressemitteilung (Nr. 37/11) veröffentlicht: „Nach Ansicht von Generalanwalt Cruz Villalón verletzt eine Anordnung gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten, zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums ein Filter- und Sperrsystem für elektronische Nachrichten einzurichten, grundsätzlich die Grundrechte.

Um zulässig zu sein, muss eine solche Maßnahme die Voraussetzungen für die Einschränkung der Ausübung der in der Grundrechtecharta vorgesehenen Rechte einhalten. Sie muss daher insbesondere auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, die den Anforderungen an die „Qualität des Gesetzes“ entspricht. Die zuständigen belgischen Gerichte können nach nationalem Recht mittels einer Unterlassungsanordnung die Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums untersagen. Insbesondere ist vorgesehen, dass die Gerichte eine Unterlassungsanordnung gegen einen Vermittler erlassen können, wenn ein Dritter die Dienste eines Vermittlers nutzt, um eine Verletzung dieser Art zu begehen.

Die Société belge des auteurs compositeurs et éditeurs (Sabam) beantragte den Erlass einer einstweiligen Maßnahme gegen Scarlet Extended SA, einen Anbieter von Internetzugangsdiensten. Sabam beantragte zunächst, Verletzungen von Urheberrechten an den zu ihrem Repertoire gehörenden Musikwerken, die u. a. aus dem unzulässigen Austausch von Musikdateien mit Hilfe von Peer-to-Peer-Programmen unter Inanspruchnahme der Dienste von Scarlet folgten, festzustellen. Weiter beantragte sie, Scarlet unter Androhung eines Zwangsgelds zu verurteilen, diese Rechtsverletzungen abzustellen, indem sie verhindert oder die Möglichkeit ausschaltet, dass ihre Kunden in irgendeiner Form Dateien, in denen ein Musikwerk ohne Zustimmung des Rechtsinhabers wiedergegeben wird, mit Hilfe eines Peer-to-Peer-Programms senden oder empfangen.

Mit Urteil vom 26.11.2004 wurde das Vorliegen dieser Urheberrechtsverletzungen festgestellt. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens wurde Scarlet mit einem zweiten Urteil, das am 29.06.2007 erlassen wurde, dazu verurteilt, unter Androhung eines Zwangsgelds von 2.500,00 EUR für jeden Tag der Zuwiderhandlung gegen das Urteil, innerhalb einer Frist von sechs Monaten1 diese festgestellten Urheberrechtsverletzungen abzustellen, indem sie es ihren Kunden unmöglich macht, in irgendeiner Form u. a. mit Hilfe eines Peer-to-Peer-Programms Dateien zu senden oder zu empfangen, die ein Musikwerk aus dem Repertoire von Sabam enthalten.

Scarlet legte gegen dieses Urteil Berufung an die Cour d’appel de Bruxelles ein, die entscheiden muss, ob sie diese gegen Scarlet erlassene Maßnahme bestätigt. In diesem Zusammenhang fragt die Cour d’appel de Bruxelles den Gerichtshof, ob das Unionsrecht und insbesondere die durch die Grundrechtecharta garantierten Grundrechte einem nationalen Gericht erlauben, eine Maßnahme gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten in Form einer Anordnung zu erlassen, ein Filter- und Sperrsystem für elektronische Übermittlungen einzurichten.

Die Verhängung des Zwangsgelds wurde schließlich bis zum 31.10.2008 ausgesetzt.

In seinen Schlussanträgen vom heutigen Tag stellt der Generalanwalt fest, dass das einzurichtende System erstens die Filterung aller Datenübertragungen, die über das Netz von Scarlet durchgeleitet werden, gewährleisten muss, um diejenigen zu entdecken, die eine Urheberrechtsverletzung mit sich bringen. Mit dieser Filterung muss dieses System zweitens die Sperre von Übermittlungen gewährleisten, die tatsächlich eine Urheberrechtsverletzung mit sich bringen, unabhängig davon, ob dies auf der Ebene des Abrufs oder bei der Übermittlung erfolgt.

Die Anordnung hat nach Ansicht von Generalanwalt Cruz Villalón demnach die Form einer allgemeinen Verpflichtung, die im Lauf der Zeit dauerhaft auf alle Anbieter von Internetzugangsdiensten erstreckt werden kann. Insbesondere betrifft die Maßnahme dauerhaft eine unbestimmte Zahl von juristischen und natürlichen Personen, ohne ihr vertragliches Verhältnis zu Scarlet oder ihren Wohnsitzstaat zu berücksichtigen. Denn mit dem System muss die Übermittlung von Dateien, durch die ein Anspruch verletzt werden kann, den Sabam verwaltet, geltend macht und verteidigt, von einem Internetnutzer, der ein Abonnement bei Scarlet hat, an einen anderen Internetnutzer – unabhängig davon, ob er bei Scarlet ein Abonnement hat und in Belgien ansässig ist oder nicht -, gesperrt werden können. Ebenso muss damit der Empfang von Dateien, die von anderen Internetnutzern stammen und das Urheberrecht verletzen, durch Internetnutzer, die bei Scarlet ein Abonnement haben, gesperrt werden können. Außerdem würde die Maßnahme allgemein und präventiv angewandt, d. h. ohne vorherige Feststellung einer tatsächlichen Verletzung oder der Gefahr einer unmittelbaren Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums.

Der Generalanwalt erläutert weiter, dass die fragliche Maßnahme sich als neue Verpflichtung darstellt. Mit der Maßnahme wird Scarlet nämlich eine Erfolgsverpflichtung in Bezug auf den Schutz der von Sabam vertretenen Urheberrechte mit Hilfe des eingerichteten Systems auferlegt, und zwar unter Androhung eines Zwangsgelds. Darüber hinaus werden Scarlet die Kosten der Einrichtung des Filter- und Sperrsystems auferlegt. Auf diese Weise wird die rechtliche und wirtschaftliche Verantwortlichkeit für den Kampf gegen das illegale Herunterladen von raubkopierten Werken im Internet mit Hilfe des einzurichtenden Systems weitgehend auf die Anbieter von Internetzugangsdiensten übertragen.

Von diesen Merkmalen ausgehend meint Generalanwalt Cruz Villalón, dass die Einrichtung dieses Filter- und Sperrsystems eine Einschränkung des Rechts auf Beachtung des Kommunikationsgeheimnisses und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, die durch die Grundrechtecharta geschützt sind, darstellt. Außerdem schränkt die Einführung eines solchen Systems die Informationsfreiheit ein, die ebenfalls durch die Grundrechtecharta geschützt wird.

Er weist aber darauf hin, dass die Grundrechtecharta die Möglichkeit einer Einschränkung der Ausübung der Rechte und Freiheiten u. a. unter der Bedingung zulässt, dass eine solche Einschränkung „gesetzlich vorgesehen“ ist. Unter Heranziehung der Rechtsprechung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in diesem Bereich entwickelt hat, führt Generalanwalt Cruz Villalón aus, dass eine Beschränkung der Ausübung der in der Grundrechtecharta garantierten Rechte und Freiheiten auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen muss, die den Anforderungen an die „Qualität des Gesetzes“ entspricht. Daher kann eine Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Internetnutzer, wie sie im vorliegenden Fall streitig ist, seiner Ansicht nach nur zulässig sein, wenn sie auf einer nationalen gesetzlichen Grundlage beruht, die zugänglich, klar und vorhersehbar ist.

Aus der Sicht des Generalanwalts ist aber die Verpflichtung der Anbieter von Internetzugangsdiensten, völlig auf ihre eigenen Kosten das fragliche Filter- und Sperrsystem einzuführen, in der streitigen belgischen gesetzlichen Regelung nicht ausdrücklich, im Vorhinein, klar und deutlich vorgesehen worden. Die Verpflichtung, die den Anbietern von Internetzugangsdiensten auferlegt wurde, ist nämlich zum einen sehr ungewöhnlich und zum anderen „neu“ und sogar unerwartet. Außerdem sind weder das Filtersystem, das systematisch und umfassend, dauerhaft und beständig gelten soll, noch der Sperrmechanismus, der einsetzen kann, ohne dass die Möglichkeit vorgesehen ist, dass die betroffenen Personen dies anfechten oder sich dem widersetzen, mit hinreichenden Garantien ausgestattet.

Der Generalanwalt schlägt folglich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass das Unionsrecht dem Erlass einer Anordnung durch ein nationales Gericht auf der Grundlage der belgischen gesetzlichen Bestimmung gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten entgegensteht, auf eigene Kosten ohne zeitliche Beschränkung für sämtliche Kunden generell und präventiv ein Filtersystem für alle eingehenden und ausgehenden elektronischen Nachrichten, die mittels seiner Dienste (insbesondere unter Verwendung von Peer-to-Peer-Programmen) durchgeleitet werden, einzurichten, um in seinem Netz den Austausch von Dateien zu identifizieren, die ein Werk der Musik, ein Filmwerk oder ein audiovisuelles Werk enthalten, an denen ein Dritter Rechte zu haben behauptet, und dann die Übertragung dieser Werke entweder auf der Ebene des Abrufs oder bei der Übermittlung zu sperren.

Es bleibt darauf hinzuweisen, dass Schlussanträge des Generalanwalts für den EuGH nicht bindend sind und in der Vergangenheit verschiedene Male übergangen wurden. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten.

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