LAG Niedersachsen: Zu der Kündigung eines langjährigen Mitarbeiters wegen „exzessiver privater Nutzung“ des Dienst-PCs

veröffentlicht am 8. Juli 2010

LAG Niedersachsen, Urteil vom 31.05.2010, Az. 12 SA 875/09
§ 626 Abs. 2 BGB

Das LAG Niedersachsen hat entschieden, dass auch einem bei einem Bauamt langjährig beschäftigten Arbeitnehmer (mehr als 32-jährige Betriebszugehörigkeit) mit einem für den allgemeinen Arbeitsmarkt schon als ungünstig zu bewertenden Lebensalter, einem Behinderungsgrad von 40 % sowie drei Unterhaltspflichten außerordentlich und ohne vorherige Abmahnung gekündigt werden kann, wenn dieser über einen Zeitraum von mehr als sieben Wochen jeden Tag mehrere Stunden in sog. Chat-Rooms mit dem Schreiben privater Nachrichten beschäftigt ist, mitunter in einem Umfang, der eine ordnungsgemäße Erledigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Dienstleistungen nicht mehr zulässt. Insoweit handele es sich um eine  „exzessive“ Privatnutzung des Dienst-PC.

Erstmalig mit Urteil im Juli 2005 hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass der Arbeitnehmer bei einer privaten Internetnutzung während der Arbeitszeit grundsätzlich seine (Hauptleistungs-)Pflicht zur Arbeit verletzt. Die private Nutzung des Internets darf die Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht erheblich beeinträchtigen. Die Pflichtverletzung wiegt dabei umso schwerer, je mehr der Arbeitnehmer bei der privaten Nutzung des Internets seine Arbeitspflicht in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht vernachlässigt (BAG 07.07.2005, 2 AZR 581/04, AP Nr. 192 zu § 626 BGB, Rn. 27). Deshalb muss es jedem Arbeitnehmer klar sein, dass er mit einer exzessiven Nutzung des Internets während der Arbeitszeit seine arbeitsvertraglichen Haupt- und Nebenpflichten erheblich verletzt. Es bedarf daher in solchen Fällen auch keiner Abmahnung. Mit der Erfordernis einer einschlägigen Abmahnung vor Kündigungsausspruch soll vor allem dem Einwand des Arbeitnehmers begegnet werden, er habe die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens nicht erkennen bzw. nicht damit rechnen können, der Arbeitgeber werde sein vertragswidriges Verhalten als so schwerwiegend ansehen (BAG a. a. O. Rn. 38). Diese Grundsätze hat der Zweite Senat mit seiner Entscheidung vom aus April 2006 (BAG 27.04.2006, 2 AZR 386/05, AP Nr. 202 zu § 626 BGB) noch einmal bekräftigt. Mit Urteil vom 31.05.2007 (2 AZR 200/06, NZA 2007, 922 bis 925) hat das Bundesarbeitsgericht diese Rechtsprechung über die private Nutzung des Internets auch auf die „private Nutzung des Dienst-PC“ erstreckt. Kündigungserheblich sein kann die private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Internets oder anderer Arbeitsmittel während der Arbeitszeit, weil der Arbeitnehmer während des Surfens im Internet oder einer intensiven Betrachtung von Videofilmen oder -spielen zu privaten Zwecken seine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringt und dadurch seiner Arbeitspflicht nicht nachkommt und sie verletzt. Die außerordentliche Kündigung ohne Ausspruch einer vorherigen Abmahnung kommt dabei in Betracht, wenn es sich um eine exzessive Privatnutzung handelt.

Im vorliegenden Fall ist zumindest für den Zeitraum vom 12.03.2008 bis zum 02.05.2008 ein exzessiver privater E-Mail-Verkehr des Klägers während der Arbeitszeit belegt. Die Beschäftigung des Klägers mit der Pflege seiner privaten Kontakte hat dabei phasenweise einen zeitlichen Umfang angenommen, der ihm keinen Raum mehr für die Erledigung seiner Dienstaufgaben gelassen hat. Als Ausdrucke zur Gerichtsakte gereicht hat die Beklagte zwar nur diejenigen E-Mails, die an das Pseudonym des Klägers (M.48) gerichtet waren. In der mündlichen Verhandlung am 31.05.2010 hat der Kläger auf Vorhalt eingeräumt, dass er „auf den einen oder anderen Beitrag“ geantwortet habe. Zu dem genauen Umfange seiner Antworten wollte er sich nicht näher erklären. Nun ergibt sich aber aus den von der Beklagten vorgelegten E-Mails der Kommunikationspartnerinnen des Klägers, dass es sich dabei um Bestandteile eines fortgesetzten Dialoges handelt. Jeder Beitrag ist sprachlich auf einen vorangegangenen (sachlogisch vom Kläger stammenden) Beitrag bezogen. So beispielsweise die Rückfrage von „je-lo“ am 25.04.2008 um 09:19 Uhr, die sich an den Kläger richtet mit den Worten: „wie? du musst mal arbeiten? bist du krank? *grins*“ (Bl. 909 d. A.). Das Gleiche gilt für eine an den Kläger gesandte Mail mit den Worten „das kann ich nur zurück geben *lach*“ Mail vom 25.04.2008 09:12 (Bl. 909 d. A.). Insgesamt muss daher davon ausgegangen werden, dass die Beiträge des Klägers zur wechselseitigen E-Mail-Kommunikation sich in etwa in der gleichen Größenordnung bewegt haben, wie die an ihn gerichteten Antworten. Lägen die Dinge anders, so hätte der Kläger hier mit Substanz bestreiten müssen. Am 01.04.2008 hat der Kläger im Zeitraum von 08:56 Uhr bis 16:31 Uhr 110 E-Mail-Antworten (nach Rechnung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten: 111 E-Mail-Antworten) erhalten. Am 02.04.2008 waren es 118 E-Mails, am 16.04.2008 139 E-Mails, am 17.04.2008 183 E-Mails und am 21.04.2008 173 E-Mails. Ergänzend wird hier auf die datenmäßige Aufbereitung im Schriftsatz der Beklagten vom 28.05.2010 (Bl. 1103 d. A.) verwiesen. Legt man für das Lesen und die Beantwortung einer Mail nur jeweils 3 Minuten zu Grunde, so ist ein Arbeitstag des Klägers, der tariflich mit 7 Std. und 48 Min. zu veranschlagen ist, bereits dann vollständig ausgefüllt, wenn der Kläger 156 private E-Mails „bearbeitet“ hat. Dies bedeutet, dass dem Kläger zumindest am 17.04., 21.04. und 23.04.2008 keinerlei Zeit mehr für die Bearbeitung seiner Dienstaufgaben verblieben ist. Bei einem derart exzessiven privaten E-Mail-Verkehr während der Dienstzeit bedurfte es zum Beleg der Verletzung der Arbeitspflicht seitens der Beklagten keiner näheren Substantiierung der tatsächlich beim Kläger aufgelaufenen Arbeitsrückstände. Der Kläger hat seine Arbeitspflicht in einem solchen Umfang und einer solchen Intensität verletzt, dass es hier einer vorausgehenden Abmahnung nicht bedurfte. Der mit ca. 4.800 € brutto im Monat vergütete Kläger konnte und durfte nicht annehmen, dass es von der beklagten Gemeinde toleriert wird, wenn er den gesamten Arbeitstag versucht, private (erotische) Kontakte über das dienstliche E-Mail-System anzubahnen. Ihm musste auch klar sein, dass er durch sein Handeln bei der privaten Kontaktanbahnung und das Unterlassen des Bearbeitens dienstlicher Aufgaben seinen Arbeitsplatz gefährdet.

Die von der Beklagten in den Prozess eingeführten Auswertungen der an den Kläger gerichteten privaten E-Mails auf seinem dienstlichen Rechner unterliegen keinem „Verwendungs- und Verwertungsverbot“.

Ordnungsgemäß in den Prozess eingeführten Sachvortrag muss das entscheidende Gericht berücksichtigen. Ein „Verwertungsverbot“ von Sachvortrag kennt das deutsche Zivilprozessrecht nicht. Der beigebrachte Tatsachenstoff ist entweder unschlüssig oder unbewiesen, aber nicht „unverwertbar“. Dies gilt umso mehr, wenn der Sachverhalt unstreitig ist. Das Gericht ist an ein Nichtbestreiten (wie auch an ein Geständnis) grundsätzlich gebunden. Es darf für unbestrittene Tatsachen keinen Beweis verlangen und erheben. Die Annahme eines „Sachvortragsverwertungsverbotes“ steht in Widerspruch zu den Grundprinzipien des deutschen Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahrens (BAG 13.12.2007, 2 AZR 537/07, NZA 2008, 1008 – 1012). Gestattet ein Arbeitgeber seinen Mitarbeitern, den Arbeitsplatzrechner auch zum privaten E-Mail-Verkehr zu nutzen und E-Mails, die von den Mitarbeitern nicht unmittelbar nach Eingang oder Versendung gelöscht werden, im Posteingang oder -ausgang zu belassen oder in anderen auf lokalen Rechnern oder zentral gesicherten Verzeichnissen des Systems abzuspeichern, unterliegt der Zugriff des Arbeitgebers oder Dritter auf diese Datenbestände nicht den rechtlichen Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses. Schutz gegen die rechtswidrige Auswertung dieser erst nach Beendigung des Übertragungsvorganges angelegten Daten wird nur durch die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung bzw. auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme gewährt (Hessischer Verwaltungsgerichtshof 19.05.2009, 6 A 2672/08.Z, NJW 2009, 2470 – 2473). Die Beklagte hat vorliegend nicht die § 15 Telemediengesetz bzw. § 88 Telekommunikationsgesetz verletzt, da sie im Sinne dieser Spezialgesetze nicht als „Dienstanbieter“ von Telekommunikationsdienstleistungen anzusehen ist. Bei einer Kollision des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers mit den Interessen des Arbeitgebers ist durch eine Güteabwägung im Einzelfall zu ermitteln, ob das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Vorrang verdient (BAG 13.12.2007 a. a. O. Rn. 36).

Im vorliegenden Fall ergibt eine Interessenabwägung, dass die Beklagte den privaten E-Mail-Verkehr des Klägers zur Wahrnehmung eigener Rechte in den Kündigungsschutzprozess einführen durfte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte die private Nutzung des dienstlichen E-Mail-Systems nicht ausdrücklich schriftlich gestattet, sondern lediglich geduldet hat. Ferner war zu berücksichtigen, dass die Beklagte, da dem Kläger ein Büro zur alleinigen Nutzung zugewiesen war, keine Möglichkeiten hatte, das Arbeitsverhalten des Klägers durch ein milderes Mittel wie z.B. die soziale Kontrolle durch andere Mitarbeiter zu beeinflussen. Dem Kläger ist als stellvertretendem Leiter des Bauamtes arbeitgeberseitig ein Vertrauensvorschuss dahingehend gegeben worden, dass er seine Arbeiten selbständig und ordnungsgemäß erledigt. Dieses Vertrauen hat der Kläger wie der vorgelegte exzessive private E-Mail-Verkehr zeigt, massiv enttäuscht. Die mit der im Prozess vorgenommenen Auswertung der E-Mails verbundene Persönlichkeitsverletzung musste der Kläger daher mit Rücksicht auf die berechtigten Belange der Beklagten hinnehmen.

Die im Rahmen der außerordentlichen Kündigung vorzunehmende umfassende Interessenabwägung rechtfertigt die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Zu Gunsten des Klägers waren dessen mehr als 32-jährige Betriebszugehörigkeit, sein für den allgemeinen Arbeitsmarkt schon als ungünstig zu bewertendes Lebensalter, sein Grad der Behinderung von 40 sowie seine drei Unterhaltspflichten zu berücksichtigen. Gegen den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses spricht die außerordentliche Intensität der Verletzung der Arbeitspflicht durch den exzessiven privaten E-Mail-Verkehr. Dabei lässt der Wortlaut einiger E-Mail-Nachrichten erkennen, dass sowohl der Kläger als auch seine Kommunikationspartnerinnen zumindest partiell ein Unrechtsbewusstsein bei ihrem Tun hatten. So schrieb „hpe“ dem Kläger am 12.03.2008 um 15:43 Uhr: „ja dir auch, denk dran die mails zu löschen“ (Bl. 267 d. A.). Der Kläger selbst hat am 23.08.2007 an „dikepani“ geschrieben: „kann leider tagsüber bei meetic nicht chatten oder mailen… sitze im r. und hier haben wir eine firewall die das unterbindet… liebe grüße m. (B 169, 3. Anlagenordner). In der Interessenabwägung gegen den Kläger spricht schließlich der Umstand, dass das durch den privaten E-Mail-Verkehr dokumentierte Verhalten des Klägers an seinem Arbeitsplatz lässt nicht einmal das Minimum einer pflichtgemäßen Arbeitshaltung erkennen lässt. Bei dem zur Begründung der Kündigung herangezogenen Verhalten des Klägers handelt es sich nicht um einen arbeitstäglichen „Ausrutscher“. Der nachgewiesene Zeitraum des Fehlverhaltens umfasst ca. 7 Wochen. Bei dieser Sachlage fiel die Interessenabwägung zu Lasten des Klägers aus. Der Beklagten wäre nicht einmal die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zuzumuten gewesen.

Die am 22.08.2008 ausgesprochene und dem Kläger noch am selben Tage zugegangene außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist ist innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB erklärt worden.

Gemäß § 626 Abs. 2 BGB beginnt die Zwei-Wochen-Frist, innerhalb derer eine außerordentliche Kündigung zu erklären ist, mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Für den Fristbeginn kommt es auf die sichere und möglichst vollständige positive Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen an; selbst grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht. Nicht ausreichend ist die Kenntnis des konkreten die Kündigung auslösenden Anlasses, d. h. des „Vorfalls“ der einen wichtigen Grund darstellen könnte. Dem Kündigungsberechtigten muss eine Gesamtwürdigung möglich sein. Solange der Kündigungsberechtigte die Aufklärung des Sachverhaltes, auch der gegen eine außerordentliche Kündigung sprechenden Gesichtspunkte, durchführt, kann die Ausschlussfrist nicht beginnen. Sie ist allerdings nur solange gehemmt, wie der Kündigungsberechtigte aus verständlichen Gründen mit der gebotenen Eile noch Ermittlungen anstellt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhaltes verschaffen sollen (BAG 29.07.1993, 2 AZR 90/93, AP Nr. 31 zu § 626 BGB Ausschlussfrist, Rn. 16).

Nach diesen Grundsätzen und unter Würdigung des Beweisergebnisses, welches die Vernehmung des Zeugen Müller am 31.05.2010 erbracht hat, ist die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist vorliegend gewahrt. Die Beklagte hatte vorgetragen, dass erst am 13. und 14.08.2008 eine Überprüfung des Arbeitsplatzrechners des Klägers in Bezug auf den ausschweifenden privaten E-Mail-Verkehr stattgefunden haben soll. Dies ist in zentralen Punkten durch die Vernehmung des Zeugen M. in der mündlichen Verhandlung am 31.05.2010 bestätigt worden. Zwar ist kein schriftlicher Vermerk über das Ermittlungsergebnis des Zeugen M. zur Gerichtsakte gereicht worden. Aus dem an den Prozessbevollmächtigten der Beklagten gerichteten Schreiben vom 12. August 2008 (Bl. 1105 d. A.) ergibt sich jedoch, dass die Ermittlungen bezüglich der Mails am 12.08.2008 noch nicht abgeschlossen waren. Zu dem Schreiben vom 12.08.2008 hat der Zeuge ausgesagt, dass er dieses Schreiben tatsächlich erst am 12.08.2008 an den Prozessbevollmächtigten der Beklagten übermittelt hat. Er hat aus dem Schreiben gefolgert, dass er seinem „Chef“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Ermittlungsergebnis zur Kenntnis geben konnte. Auch vor Einführung dieses Schreibens in den Prozess hat der Zeuge angegeben, dass er sich erinnert, dass seine Untersuchungen des Rechners in Bezug auf den privaten Mail-Verkehr höchstens eine Woche vor der Personalratsanhörung am 20.08.2008 abgeschlossen waren. Dabei tut es der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen M. keinen Abbruch, dass er sich fast 2 Jahre nach dem maßgeblichen Vorfall nicht taggenau daran erinnern konnte, wann er die entsprechenden Untersuchungen abgeschlossen hat. Auch die Glaubwürdigkeit des Zeugen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass er nach dem Eindruck der Kammer ein kritisches Verhältnis zum Kläger hatte. Denn der vom Zeugen angegebene Sachverhaltsverlauf wird durch das in der mündlichen Verhandlung zur Akte gereichte Schreiben vom 12.08.2008 verobjektiviert.

Rückgerechnet vom Zugang der Kündigung am 22.08.2008 reicht die dem Arbeitgeber zuzugestehende Kündigungserklärungsfrist zurück bis zum 08.08.2008. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass die Ermittlungen in Sachen der privaten E-Mail-Korrespondenz des Klägers keinesfalls vor dem 08.08.2008 zum Abschluss gelangt sind.

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