BGH: Zur Wiederholungsgefahr und kerngleichen Verstöße / Zum Verbot der Werbung für Fernbehandlungen

veröffentlicht am 2. März 2022

BGH, Urteil vom 09.12.2021, Az. I ZR 146/20
§ 3a UWG, § 8 Abs. 1 S.1 UWG, § 9 HWG, § 630a Abs. 2 BGB; § 7 Abs. 4 MBO-Ä

Der BGH hat entschieden, dass sich die für einen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr auf identische Verletzungshandlungen und alle im Kern gleichartigen Verletzungshandlungen, in denen das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt, erstreckt. Dabei hat der I. Zivilsenat auch die Tücken eines Unterlassungsantrags offen gelegt, der über eine zulässige Verallgemeinerung (zur Abdeckung kerngleicher Verstöße) hinausgeht. Im konkreten Fall hatte die Klägerin der Beklagten u.a. verbieten lassen wollen, für jedes Leiden ohne Weiteres ärztliche Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen per App anzubieten. Insoweit bestehe aber nicht einmal eine Erstbegehungsgefahr, da der Patient vor einer Kontaktaufnahme des Arztes mit einem sog. „Concierge“ zu sprechen habe, welcher darauf hinweise, dass der Patient alternativ zum traditionellen Arztbesuch die App nutzen könne, und der ihm den dafür erforderlichen Zugangscode erst bei entsprechendem Interesse zuschicke. Zum Volltext der Entscheidung:

 

Bundesgerichtshof

Urteil

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 07.10.2021 durch … für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Oberlandesgerichts München – 6. Zivilsenat – vom 09.07.2020 im Kostenpunkt und im Übrigen teilweise aufgehoben und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das Urteil des Landgerichts München I, 33. Zivilkammer, vom 16.07.2019 im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen in der Weise abgeändert, dass im Tenor des vorbezeichneten Urteils unter Ziffer I das Wort „insbesondere“ entfällt und die Klage im Übrigen abgewiesen wird.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. Die Beklagte, die Holdinggesellschaft eines Krankenversicherers, warb im Jahr 2017 auf ihrer Internetseite für ein Angebot ihrer Tochtergesellschaft o. Krankenversicherung AG. Gegenstand der Werbung war ein sogenannter digitaler Arztbesuch, bei dem Versicherten über eine Smartphone-App die Möglichkeit eröffnet wurde, Kontakt zu Ärzten der in der Schweiz ansässigen e. AG aufzunehmen. In der Werbung hieß es auszugsweise:

Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App.

Die Klägerin sieht darin einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen gemäß § 3a UWG in Verbindung mit § 9 HWG. Die Beklagte hält dem entgegen, die beworbene Fernbehandlung werde von erfahrenen Ärzten der e. AG erbracht und sei in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt. Sie beschränke sich zudem auf die Beratung bei allgemeinen medizinischen Problemen, bei denen ein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient nicht erforderlich sei.

Die Klägerin hat die Beklagte auf Erstattung von pauschalen Abmahnkosten in Höhe von 267,50 € in Anspruch genommen sowie beantragt, die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verurteilen, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr in der Bundesrepublik Deutschland für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines digitalen Arztbesuchs zu werben, wobei mittels einer App in Deutschland lebenden Patienten, die bei der o. Krankenversicherung AG krankenversichert sind, angeboten wird, über ihr Smartphone von Ärzten, die im Ausland sitzen, Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erlangen, insbesondere wenn das geschieht wie nachfolgend eingelichtet und aus Anlage KR 1a ersichtlich:

[Es folgen 16 von der Klägerin als Anlage KR 1a eingereichte Screenshots, die die Werbung der Beklagten für den digitalen Arztbesuch zeigen, unter anderem mit folgenden Werbeaussagen:

Bleib einfach im Bett, wenn Du zum Arzt gehst. … Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App. … Alles per App – Diagnosen, Therapieempfehlung, Krankschreibung. … Hochqualifiziertes Ärzteteam. Mit der e. -App ist der Arzt immer dabei. Die e. -Ärzte sind erfahrene Allgemein- und Notfallmediziner.

So einfach geht der Digitale Arztbesuch. Unser Kollege Max, der auch bei o. versichert ist, hat in seinem letzten Urlaub einen Digitalen Arztbesuch genutzt und ihn für uns dokumentiert. … Max verletzt sich im Urlaub am Fuß. Er hat starke Schmerzen und einen Bluterguss am Zehennagel. Er weiß nicht genau, an wen er sich vor Ort wenden kann und kontaktiert den o. Concierge. … Der Concierge erklärt Max, dass er alternativ zum traditionellen Arztbesuch den Digitalen Arztbesuch per App des Schweizer Anbieters e. AG nutzen kann und schickt ihm bei Interesse einen Zugangscode. Max verbindet sich jetzt per Video mit einer in der Schweiz ansässigen Ärztin. o. ist nicht Anbieter des Digitalen Arztbesuchs, sondern vermittelt lediglich den Kontakt zu den Schweizer Ärzten der e. AG, mit denen auch der Behandlungsvertrag zustande kommt. … Die Ärztin lässt sich die Beschwerden schildern und Max zeigt ihr per Video den Bluterguss am Zeh. Sie empfiehlt Max Schmerzmittel, eine abschwellende Salbe und eine erneute Konsultation, sollten die Schmerzen länger als drei Tage anhalten. Drei Tage später geht es Max wieder super. Der Fuß tut nicht mehr weh und er hat seine Urlaubszeit nicht auf der Suche nach einem Arzt verschwendet. Der gesamte Vorfall wurde übersichtlich in der e. App dokumentiert.]

Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt (LG München I, WRP 2019, 1621). Mit der dagegen gerichteten Berufung hat die Beklagte die Abweisung der Klage erstrebt. Die Klägerin hat die Zurückweisung der Berufung beantragt und hilfsweise die Berufungszurückweisung mit der Maßgabe begehrt, im Verbotsausspruch das Wort „insbesondere“ zu streichen. Das Berufungsgericht hat die Berufung vollständig zurückgewiesen (OLG München, WRP 2020, 1498). Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

A. Das Berufungsgericht hat die Klage für begründet erachtet. Dazu hat es ausgeführt:

Die Klageanträge seien gemäß § 3a UWG wegen Verstoßes gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen im Sinne von § 9 HWG begründet. Der nicht auf die konkrete Verletzungshandlung beschränkte Unterlassungshauptantrag sei auf das Verbot einer pauschalen Werbung für Fernbehandlungen als universelle Methode – von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis zur Krankschreibung – gerichtet. Beanstandet werde die Anpreisung eines digitalen Primärversorgungsmodells, bei dem in Deutschland befindliche Patienten durch ausländische Ärzte Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen erhalten könnten, ohne dass sie hierfür zum Arzt gehen müssten. Eine solche Werbung verstoße gegen das Werbeverbot gemäß § 9 HWG, ohne dass es auf die Frage ankomme, ob die beworbene Dienstleistung der im Ausland ansässigen Ärzte nach dem ausländischen oder nach dem deutschen Recht zulässig sei. Es sei deshalb unerheblich, dass die Muster-Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) während des vorliegenden Rechtsstreits geändert und die zuvor verbotene ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien im Einzelfall nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sei. Die Werbung der Beklagten sei auch nicht durch die mit Wirkung ab dem 19. Dezember 2019 erfolgte Änderung des § 9 HWG zulässig geworden, mit der die Werbung für Fernbehandlungen im Einzelfall unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt worden sei. Auch nach dieser Änderung sei die Bewerbung eines telemedizinischen Primärarztmodells, wie es im Streitfall von der Beklagten beworben worden sei, nach wie vor unzulässig.

B. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hat zum Teil Erfolg. Das vom Berufungsgericht gemäß dem Hauptantrag ausgesprochene Verbot ist zu weitgehend; es fehlt an einer entsprechenden Begehungsgefahr (dazu B I). Die Verurteilung der Beklagten zur Unterlassung hält allerdings der rechtlichen Nachprüfung stand, soweit sie auf die beanstandete Werbung in ihrer konkreten Verletzungsform bezogen ist (dazu B II). Der auf Abmahnkostenersatz gerichtete Zahlungsanspruch ist ebenfalls begründet (dazu B III).

I. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Verurteilung der Beklagten nach dem Unterlassungshauptantrag.

1. Anders als der in der Berufungsinstanz gestellte Hilfsantrag ist der Hauptantrag der Klägerin auf ein abstraktes Verbot gerichtet. Das Berufungsgericht ist in zutreffender Auslegung des Antrags davon ausgegangen, dass der nicht auf die konkrete Verletzungshandlung beschränkte Unterlassungshauptantrag auf das Verbot einer pauschalen Werbung für Fernbehandlungen als universelle Methode – von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis zur Krankschreibung – gerichtet ist. Beanstandet wird die Anpreisung eines digitalen Primärversorgungsmodells, bei dem in Deutschland befindliche Patienten durch ausländische Ärzte Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen erhalten könnten, ohne dass sie hierfür zum Arzt gehen müssen.

2. Mit Erfolg rügt die Revision, das Berufungsgericht habe der Klägerin damit jedenfalls ein zu weitreichendes Verbot zugesprochen, indem es den Unterlassungstenor nicht auf die konkrete Werbung begrenzt, sondern davon zu weitgehend abstrahiert habe. Für das vom Berufungsgericht ausgesprochene, von dem konkret beworbenen Angebot der Beklagten abstrahierende Verbot fehlt es an der erforderlichen Wiederholungsgefahr.

a) Die für den im Streitfall geltend gemachten Verletzungsunterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr erstreckt sich im Ausgangspunkt auf mit der konkreten Verletzungshandlung identische Verletzungshandlungen. Im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes besteht eine Wiederholungsgefahr darüber hinausgehend für alle im Kern gleichartigen Verletzungshandlungen, in denen das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 17. September 2015 – I ZR 92/14, GRUR 2016, 395 Rn. 38 = WRP 2016, 454 – Smartphone-Werbung, mwN). In dem Umfang, in dem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch über eine zulässige Verallgemeinerung hinausgeht, fehlt es an der erforderlichen Wiederholungsgefahr. Der Unterlassungsanspruch ist in diesem Umfang unbegründet und der Klageantrag insoweit abzuweisen (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2000 – I ZR 186/98, GRUR 2001, 446 [juris Rn. 16] = WRP 2001, 392 – 1-Pfennig-Farbbild; Urteil vom 14. November 2002 – I ZR 137/00, GRUR 2003, 446 [juris Rn. 25 f.] = WRP 2003, 509 – Preisempfehlung für Sondermodelle; Urteil vom 14. Januar 2016 – I ZR 61/14, GRUR 2016, 516 Rn. 41 = WRP 2016, 581 – Wir helfen im Trauerfall; Büscher in Fezer/Büscher/Obergfell, Lauterkeitsrecht, 3. Aufl., § 8 UWG Rn. 62).

b) Nach diesen Grundsätzen fehlt es für den Unterlassungshauptantrag an der erforderlichen Begehungsgefahr. Er umfasst Verhaltensweisen, die von der im Streitfall in Rede stehenden konkreten Verletzungshandlung in erheblicher Weise abweichen und über das Charakteristische der konkreten Verletzungsform hinausgehen, so dass keine Wiederholungsgefahr besteht. Auch greifbare Anhaltspunkte für eine Erstbegehungsgefahr liegen nicht vor.

aa) Der abstrakte Hauptantrag der Klägerin bezieht sich auf über eine App erbrachte Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen durch Ärzte, die im Ausland sitzen. Charakteristisch für das von der Beklagten beworbene Fernbehandlungsangebot per App ist jedoch, dass die Fernbehandlung von in der Schweiz ansässigen Ärzten erbracht werden soll. Nach dem Vorbringen der Beklagten ist dieses Modell gewählt worden, weil eine solche Fernbehandlung in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt sei und die Qualifikation von Schweizer Ärzten derjenigen der in Deutschland praktizierenden Ärzte entspreche. Die Beklagte hat in ihrer Internetwerbung auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Fernbehandlung durch Schweizer Ärzte erbracht wird, die erfahrene Allgemein- oder Notfallmediziner seien und einem hochqualifizierten Ärzteteam angehörten. Das Berufungsgericht hat keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dafür festgestellt, dass die Beklagte in Zukunft auch für Fernbehandlungen durch ausländische Ärzte werben wird, obwohl diese weder das für deutsche Ärzte anzunehmende Qualifikationsniveau erreichen noch die Fernbehandlung nach dem vor Ort geltenden Recht erlaubt und das erfahrungsgemäß zu erwartende videotechnische Ausstattungsniveau mit dem in der Schweiz vergleichbar ist. Solche Anhaltspunkte sind auch nicht ersichtlich. Es kann mithin nicht davon ausgegangen werden, dass die für einen Unterlassungsanspruch notwendige Begehungsgefahr einer der abstrahierenden Antragsfassung entsprechenden Werbung durch die Beklagte besteht.

bb) Die Beklagte hat zudem – abweichend vom abstrakt gefassten Unterlassungshauptantrag – nicht pauschal damit geworben, dass ihre Tochtergesellschaft ihren Kunden für jedes Leiden ohne Weiteres ärztliche Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen per App anbietet. Aus dem in der Werbung wiedergegebenen Fallbeispiel des „Kollegen Max“ ergibt sich vielmehr, dass ein Patient zunächst Kontakt zu einem Concierge aufnimmt, der ihm erklärt, dass er alternativ zum traditionellen Arztbesuch die App des Schweizer Anbieters e. AG nutzen könne, und der ihm den dafür erforderlichen Zugangscode erst bei entsprechendem Interesse zuschickt. Es sind wiederum keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dafür festgestellt worden noch ersichtlich, dass die Beklagte in der Zukunft für einen digitalen Arztbesuch per App werben wird, bei dem der Patient direkt Kontakt zu einem Arzt aufnehmen kann.

II. Die Verurteilung der Beklagten zur Unterlassung nach dem in der Berufungsinstanz gestellten Hilfsantrag hält allerdings im Ergebnis der rechtlichen Nachprüfung stand. Im Umfang des Charakteristischen der konkreten Verletzungsform besteht nach den allgemeinen Grundsätzen Wiederholungsgefahr.

1. Vorliegend ist davon auszugehen, dass die Klägerin jedenfalls eine Untersagung der konkreten Verletzungsform begehrt.

a) Geht ein Unterlassungsantrag über eine zulässige Verallgemeinerung hinaus, kann ein Verbot in Bezug auf die konkrete Werbemaßnahme ausgesprochen werden, wenn der Klage zu entnehmen ist, dass jedenfalls diese untersagt werden soll. Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn der Kläger mit einem Insbesondere-Zusatz im Klageantrag zum Ausdruck gebracht hat, dass er jedenfalls die Untersagung der beanstandeten Werbung in ihrer konkreten Ausgestaltung erstrebt (BGH, GRUR 2001, 446 [juris Rn. 16] – 1-Pfennig-Farbbild; GRUR 2016, 516 Rn. 41 – Wir helfen im Trauerfall).

b) So liegt es hier. Die Klägerin hat die konkrete, in Screenshots abgebildete Internetwerbung der Beklagten durch den Insbesondere-Zusatz in ihrem Unterlassungshauptantrag und zudem auch ausdrücklich durch einen in der Berufungsinstanz gestellten entsprechenden Hilfsantrag zum Gegenstand ihres Unterlassungsbegehrens gemacht.

2. Die allgemeinen Voraussetzungen eines wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruchs unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs (§ 8 Abs. 1 und 3 Nr. 2 UWG in der bis zum 30. November 2021 geltenden Fassung [aF, vgl. § 15a Abs. 1 UWG], § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 9 HWG) liegen vor.
Die Klägerin ist ein rechtsfähiger Verband im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG aF. Das Berufungsgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass es sich bei der Regelung gemäß § 9 HWG um eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG handelt und ein Verstoß geeignet ist, die Interessen der Verbraucher spürbar zu beeinträchtigen. Das dort geregelte Verbot der Werbung für Fernbehandlungen dient dem Schutz der öffentlichen Gesundheit (zu § 6 Abs. 2 HWG aF vgl. die Begründung der Regierung zum Entwurf eines Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens, BT-Drucks. IV/1867, S. 9; Bülow/Ring in Bülow/Ring/Artz/Brixius, HWG, 5. Aufl., § 9 Rn. 1; Doepner/Reese in BeckOK.HWG, 6. Edition, Stand: 1. August 2021, § 9 Rn. 27 bis 31). Damit steht gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2005/29/EG, wonach diese Richtlinie die Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten unberührt lässt, zudem die mit dieser Richtlinie grundsätzlich bezweckte vollständige Harmonisierung der unlauteren Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern der Verfolgung eines Verstoßes gegen § 9 HWG unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs gemäß § 3a UWG nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – I ZR 235/16, GRUR 2021, 628 Rn. 14 = WRP 2021, 615 – Apothekenmuster II).

3. Die Werbung der Beklagten für den „Digitalen Arztbesuch“ per App verstößt gegen § 9 HWG in seiner alten und in seiner ab dem 19. Dezember 2019 geltenden neuen Fassung.

a) Die Bestimmung des § 9 HWG ist durch Art. 5 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) vom 9. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2562) mit Wirkung vom 19. Dezember 2019 geändert worden. Da der Unterlassungsantrag nur begründet ist, wenn das beanstandete Verhalten der Beklagten sowohl zum Zeitpunkt seiner Vornahme im Jahr 2017 als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz rechtswidrig ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, GRUR 2021, 628 Rn. 13 – Apothekenmuster II, mwN), ist zu prüfen, ob die beanstandete Werbung der Beklagten sowohl nach der Bestimmung des § 9 HWG aF (dazu B II 3 b) als auch unter den Voraussetzungen des § 9 HWG nF (dazu B II 3 c) unzulässig ist.

b) Das Berufungsgericht ist mit Recht davon ausgegangen, dass die angegriffene Werbung der Beklagten zum Zeitpunkt der Vornahme im Jahr 2017 gegen § 9 HWG aF verstieß.

aa) Gemäß § 9 HWG aF ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung), unzulässig.
bb) Diese Voraussetzungen für ein Werbeverbot sind im Streitfall erfüllt.

(1) Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe im Sinne von § 9 HWG aF geworben. Die Werbung umfasse das an die in Deutschland ansässigen Kunden der o. Krankenversicherung AG gerichtete Angebot, über eine Smartphone-App per Videoverbindung von in der Schweiz ansässigen Ärzten Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erhalten. Diese Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

(2) Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die beworbene Videosprechstunde beim Arzt als ein ärztliches Handeln angesehen, das im Sinne von § 9 HWG nicht auf eigener Wahrnehmung des Arztes beruhe. Dieses Merkmal sei etwa bei einem bloßen Briefkontakt erfüllt, es könne jedoch keine Rede davon sein, dass ein Arzt den Patienten bei einer Videosprechstunde nicht wahrnehme. Die Auslegung des Berufungsgerichts überschreite deshalb die Grenze des Gesetzeswortlauts. Da das Werbeverbot im Sinne von § 9 HWG gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 6 HWG eine Ordnungswidrigkeit darstelle, habe das Berufungsgericht mit seiner den Wortsinn des § 9 HWG aF überschreitenden Auslegung gegen das Analogieverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Mit dieser Rüge hat die Revision keinen Erfolg.

(3) Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG scheidet aus. Das dort für den Bereich des Strafrechts und in § 3 OWiG auch für den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts statuierte Bestimmtheitsgebot schlägt dann auf die wettbewerbsrechtliche Beurteilung durch, wenn die Marktverhaltensregelung, auf die wettbewerbsrechtliche Ansprüche gemäß § 3a UWG gestützt werden, selbst eine Vorschrift des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts ist. Soweit dagegen die Einhaltung einer Marktverhaltensregelung, die – wie im Streitfall – selbst keine solche straf- oder bußgeldrechtliche Vorschrift ist, durch eine (Blankett)Norm des (Neben)Strafrechts oder des Ordnungswidrigkeitenrechts sanktioniert ist, gilt Art. 103 Abs. 2 GG für die Marktverhaltensregelung nur insoweit, als ein Gericht sie in Verbindung mit der Straf- oder Bußgeldnorm zur Verurteilung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit anwendet (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2012 – I ZR 161/11, GRUR 2013, 857 Rn. 18 = WRP 2013, 1024 – Voltaren, mwN). Das ist hier nicht der Fall.

(4) Aber auch ein Auslegungsfehler des Berufungsgerichts liegt nicht vor. Der Begriff der Wahrnehmung erfasst nicht nur – grundsätzlich auch im Wege einer Videoübertragung vermittelbare – optische und akustische Sinneseindrücke. Vom Wortsinn des Begriffs umfasst sind vielmehr auch die nur bei einer gleichzeitigen physischen Präsenz von Arzt und Patient anwendbaren ärztlichen Untersuchungsmethoden der Betastung, Abhorchung und Beklopfung sowie die Untersuchung mit anderen medizinisch-technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise Ultraschall (Doepner/Reese in BeckOK.HWG aaO § 9 Rn. 28 und 61). Der Kontext mit dem in der Vorschrift legaldefinierten Begriff der Fernbehandlung verdeutlicht, dass es in § 9 HWG um eine eigene Wahrnehmung im Rahmen einer unmittelbaren physischen Präsenz von Arzt und Patient geht (vgl. Bülow/Ring aaO § 9 Rn. 5).

cc) Der Anwendung des § 9 HWG aF steht im Streitfall kein zwingendes Unionsrecht entgegen. Ohne Erfolg macht die Revision geltend, die mit der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel angestrebte vollständige Harmonisierung im Bereich des Arzneimittelwerberechts untersage den Mitgliedstaaten ein Verbot von Echtzeit-Videokonsultationen.

(1) Allerdings ist mit der Richtlinie 2001/83/EG die Arzneimittelwerbung vollständig harmonisiert worden (EuGH, Urteil vom 8. November 2007 C374/05, Slg. 2007, I9517 = GRUR 2008, 267 Rn. 20 bis 39 Gintec; BGH, Beschluss vom 20. Februar 2020 I ZR 214/18, GRUR 2020, 659 Rn. 18 = WRP 2020, 722 Gewinnspielwerbung I, mwN). Dieser Richtlinie lassen sich jedoch keine Anforderungen an eine Werbung für eine umfassende, die Diagnose, Therapie und Krankschreibung einschließende ärztliche Fernbehandlung entnehmen, wie sie hier vorliegt. Zwar ergeben sich aus Art. 90 der Richtlinie 2001/83/EG Anforderungen an eine Arzneimittelwerbung für die Behandlung auf dem Korrespondenzweg. Eine Werbung für eine ärztliche Fernbehandlung per App, wie sie im Streitfall in Rede steht, fällt jedoch nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

(2) Gemäß Art. 90 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG darf die Öffentlichkeitswerbung für ein Arzneimittel keine Elemente enthalten, die eine ärztliche Untersuchung oder einen chirurgischen Eingriff als überflüssig erscheinen lassen, insbesondere dadurch, dass sie eine Diagnose anbieten oder eine Behandlung auf dem Korrespondenzwege empfehlen. Soweit die Werbung für eine Behandlung mit einem Arzneimittel auf dem Korrespondenzweg betroffen ist, ist das Fernwerbeverbot im Sinne von § 9 HWG von der Bestimmung des Art. 90 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG abgedeckt (vgl. Bülow/Ring aaO § 9 Rn. 4; Spickhoff/Fritzsche, Medizinrecht, 3. Aufl., § 9 HWG Rn. 1; Gröning in Gröning/Mand/Reinhart, Heilmittelwerberecht, Stand August 1998, § 9 HWG Rn. 2; Siglmüller, Rechtsfragen der Fernbehandlung, 2020, S. 221 bis 223; Zimmermann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl., § 28 Rn. 102). Soweit allerdings – wie im Streitfall – für das Verfahren einer umfassenden, die Diagnose, Therapie und Krankschreibung einschließenden ärztlichen Fernbehandlung geworben wird, sind die in der Richtlinie 2001/83/EG für die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel aufgestellten Anforderungen nicht maßgeblich.

(3) Art. 90 der Richtlinie 2001/83/EG regelt, welche Elemente die Öffentlichkeitswerbung für ein Arzneimittel nicht enthalten darf. Als Werbung für Arzneimittel gelten nach Art. 86 Abs. 1 Halbsatz 1 der Richtlinie 2001/83/EG alle Maßnahmen zur Information, zur Marktuntersuchung und zur Schaffung von Anreizen mit dem Ziel, die Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern; dabei umfasst sie gemäß Art. 86 Abs. 1 Halbsatz 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 2001/83/EG insbesondere die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel. Nach Art. 86 Abs. 2 vierter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/83/EG fallen hingegen Informationen über die Gesundheit oder Krankheiten des Menschen, sofern darin nicht, auch nicht in indirekter Weise, auf ein Arzneimittel Bezug genommen wird, nicht unter den Begriff der Werbung.

(4) Die im Streitfall in Rede stehende Werbung fällt bereits nicht unter den Begriff der Arzneimittelwerbung im Sinne der Richtlinie 2001/83/EG.

Der die Werbung für Arzneimittel betreffende Titel VIII der Richtlinie 2001/83/EG, zu dem Art. 86 der Richtlinie 2001/83/EG gehört, regelt die Werbung für bestimmte Arzneimittel (EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 C190/20, GRUR 2021, 1325 Rn. 20 = WRP 2021, 1277 DocMorris NV/Apothekenkammer Nordrhein). Bei einer Werbung, die nicht darauf abzielt, den Patienten in der Entscheidung für ein bestimmtes Arzneimittel zu beeinflussen, handelt es sich daher nicht um eine Werbung für ein bestimmtes Arzneimittel (EuGH, GRUR 2021, 1325 Rn. 21 DocMorris/Apothekenkammer Nordrhein).

Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte nicht im Sinne von Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG für ein Arzneimittel geworben, indem sie im Sinne von Art. 90 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG auf dem Korrespondenzweg eine Behandlung mit einem Arzneimittel empfohlen hat. Weder wird in der beanstandeten Werbung ein konkretes Arzneimittel oder dessen Hersteller in Bezug genommen, noch kann der angesprochene Verkehrskreis aus den Umständen der Werbung einen Rückschluss auf ein solches Arzneimittel ziehen. Die angegriffene Werbung der Beklagten preist vielmehr unabhängig von einem konkreten Arzneimittel eine umfassende, die Diagnose, Therapie und Krankschreibung einschließende ärztliche Fernbehandlung per App an. Dem steht nicht entgegen, dass in der Werbung der Beklagten auch die Behandlung mit einem Schmerzmittel und einer abschwellenden Salbe erwähnt wird („[Die per App konsultierte Ärztin] empfiehlt Max Schmerzmittel, eine abschwellende Salbe und eine erneute Konsultation.“). Dass der angesprochene Verkehr darin nicht nur eine beispielhafte Erläuterung des möglichen Ablaufs der durch die Beklagte vermittelten Fernbehandlung sieht, sondern eine Anpreisung von individualisierbaren Arzneimitteln erkennt, ist vom Berufungsgericht nicht festgestellt worden und liegt nach der Lebenserfahrung fern. Abweichendes macht auch die Revision nicht geltend.

dd) Entgegen der Ansicht der Revision ist § 9 HWG aF nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine berufsrechtlich zulässige Fernbehandlung generell nicht dem Werbeverbot dieser Bestimmung unterfällt.

(1) Das Berufungsgericht hat angenommen, es komme nicht auf die zwischen den Parteien streitige Frage an, ob sich die Tätigkeit der ausländischen Ärzte nach den – inhaltlich nicht einheitlich gefassten – Berufsordnungen der Landesärztekammern in Deutschland oder nach dem Recht des Landes richte, in dem die behandelnden Ärzte ansässig seien. Das Werbeverbot gemäß § 9 HWG aF sei nicht akzessorisch in dem Sinne, dass es die berufsrechtliche Unzulässigkeit der beworbenen Behandlung voraussetze. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.

(2) Für die Auslegung des Berufungsgerichts spricht bereits der eindeutige Gesetzeswortlaut. § 9 HWG aF regelt allein das Verbot der Werbung für eine Fernbehandlung. Die Unzulässigkeit der Fernbehandlung selbst wird mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn zur Voraussetzung für das Werbeverbot gemacht.

(3) Gegen eine Abhängigkeit des Werbeverbots von der berufsrechtlichen Unzulässigkeit der beworbenen Fernbehandlung spricht zudem der Sinn und Zweck des § 9 HWG aF, so dass eine teleologische Reduktion seines Anwendungsbereichs durch ein ungeschriebenes Merkmal der berufsrechtlichen Unzulässigkeit der Fernbehandlung nicht in Betracht kommt.

Das Werbeverbot im Sinne von § 9 HWG aF zielt auf den Schutz der öf-fentlichen Gesundheit und individueller Gesundheitsinteressen (Bülow/Ring aaO § 9 Rn. 1). Es beruht auf dem Gedanken, dass die Fernbehandlung ein besonderes Gefahrenpotential für die Gesundheit birgt und es sich bei der Fernbehandlung um eine verkürzte und damit grundsätzlich bedenkliche Behandlungsform handelt, für die werbliche Anreize umfassend ausgeschlossen werden sollen (Braun, MedR 2018, 563, 565 mwN). Es soll verhindert werden, dass einer nicht auf persönlicher Inaugenscheinnahme und Untersuchung des Patienten durch den Arzt beruhenden Fernbehandlung durch Werbung Vorschub geleistet wird (Zimmermann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser aaO § 28 Rn. 100). Damit ist das in der Fernbehandlung selbst liegende Gefahrenpotential zwar Anlass, nicht aber Voraussetzung für das Werbeverbot gemäß § 9 HWG. Die Vorschrift formuliert vielmehr einen abstrakten Gefährdungstatbestand (KG, GRUR-RS 2019, 40959 Rn. 16 f.; Pfohl in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Mai 2021, § 9 HWG Rn. 1; Bülow/Ring aaO § 9 HWG Rn. 1; Braun, MedR 2018, 563, 565 mwN). Das Werbeverbot dient dem Gesundheitsschutz unabhängig von der berufsrechtlichen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der beworbenen Fernbehandlung, weil die Werbung für sich genommen eine Gesundheitsgefahr begründen kann. So kann eine Werbung für eine Fernbehandlung auch oder gerade dann die Gesundheitsbelange eines Kranken beeinträchtigen, wenn die beworbene Fernbehandlung tatsächlich nicht oder von einer Person durchgeführt wird, die – wie unseriöse Anbieter oder Scharlatane – nicht an berufsrechtliche Regelungen gebunden sind. In diesen Fällen besteht die Gefahr, dass sich ein Kranker aufgrund der Werbung zunächst an jemanden wendet, der ihm vermeintlich eine Fernbehandlung anbietet, wodurch möglicherweise wertvolle Zeit verloren wird (vgl. Doepner/Reese in BeckOK.HWG aaO § 9 Rn. 30 mwN; KG, GRUR-RS 2019, 40959 Rn. 17). Das Werbeverbot trägt damit der Erkenntnis Rechnung, dass sich gerade die Anonymität einer Fernbehandlung für die Tätigkeit nicht seriös arbeitender „Heilkundiger“ anbietet (Gröning in Gröning/Mand/Reinhart aaO § 9 HWG Rn. 3 mwN).

Ein solches Ergebnis wäre auch mit dem allgemeinen Zweck des Heilmittelwerbegesetzes nicht vereinbar. Durch die darin geregelten Werbeverbote will der Gesetzgeber in erster Linie Gefahren begegnen, die der Gesundheit des Einzelnen und den Gesundheitsinteressen der Allgemeinheit durch unsachgemäße Medikation unabhängig davon drohen, ob sie im Einzelfall wirklich eintreten. Darüber hinaus soll verhindert werden, dass Kranke und besonders ältere Menschen zu Fehlentscheidungen beim Arzneimittelgebrauch und bei der Verwendung anderer Mittel zur Beseitigung von Krankheiten oder Körperschäden verleitet werden (vgl. BGH, Urteil vom 28. September 2011 I ZR 96/10, GRUR 2012, 647 Rn. 40 = WRP 2012, 705 – INJECTIO). Dieser Zweck würde verfehlt, wenn durch ein ungeschriebenes Merkmal der berufsrechtlichen Unzulässigkeit der beworbenen Fernbehandlung gerade die besonders gesundheitsgefährdende Werbung durch berufsrechtlich nicht reglementierte Personen außerhalb der freiberuflich tätigen Ärzteschaft privilegiert würde (zur Bedeutung des Werbeverbots gemäß § 9 HWG für diese Fälle vgl. Doepner/Reese in BeckOK.HWG aaO § 9 Rn. 5 f.).

(4) Das Berufungsgericht hat zudem mit Recht eine Akzessorietät des in § 9 HWG aF geregelten Werbeverbots zur berufsrechtlichen Unzulässigkeit aus systematischen Gründen verneint. Dem Heilmittelwerbegesetz ist – wie der Blick auf das Verbot der Werbung mit Anwendungsgebieten für homöopathische Arzneimittel gemäß § 5 HWG zeigt – die Fassung eines Werbeverbots als abstrakter Gefährdungstatbestand nicht fremd, um das Ziel eines umfassenden Gesundheitsschutzes zu erreichen (vgl. BGH, GRUR 2012, 647 Rn. 40 – INJECTIO).

(5) Das Berufungsgericht hat angenommen, eine einschränkende Auslegung des Werbeverbots sei ferner nicht zur Verhinderung eines unverhältnismäßigen Eingriffs in die Grundrechte des Werbenden gemäß Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG geboten. Diese Beurteilung lässt angesichts der Bedeutung der bereits dargestellten Gesundheitsgefahren, die mit dem abstrakten Werbeverbot gemäß § 9 HWG aF verhindert werden sollen, keinen Rechtsfehler erkennen (zum abstrakten Gefährdungstatbestand des § 5 HWG vgl. BGH, GRUR 2012, 647 Rn. 40 – INJECTIO). Beim Schutz der Gesundheit der Bevölkerung handelt es sich um ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut, das auch empfindliche Grundrechtseingriffe rechtfertigen kann (vgl. BVerfGE 78, 179 [juris Rn. 38]; BVerfGE 85, 248 [juris Rn. 60] mwN; BVerfG, NJW 2000, 2736 [juris Rn. 13]). Der Gesundheitsschutz wiegt auch dann schwerer, wenn man berücksichtigt, dass von dem im Streitfall die beklagte Holdinggesellschaft treffenden Werbeverbot mittelbar auch die eine Fernbehandlung durchführenden Ärzte in ihrer Berufsausübungsfreiheit betroffen sind. Ob eine solche mittelbare Betroffenheit im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung eines Werbeverbots überhaupt abwägungsrelevant sein kann, kann deshalb auf sich beruhen. Im Streitfall kommt hinzu, dass die Beklagte ohnehin nicht für eine Fernbehandlung durch unter den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fallende deutsche Ärzte wirbt, sondern die beworbene Fernbehandlung durch in der Schweiz ansässige Ärzte nach den dort geltenden Bestimmungen erbracht werden soll.

(6) Auch die Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 Abs. 1 und 56 Abs. 1 AEUV gebieten keine einschränkende Auslegung des Werbeverbots gemäß § 9 HWG. Die Revision macht insoweit geltend, eine extensive Auslegung von § 9 HWG schränke in unzulässiger Weise den freien Dienstleistungsverkehr der im Ausland ansässigen Ärzte ein. Gegenstand der konkreten Verletzungsform ist die Werbung eines deutschen Unternehmens für eine Fernbehandlung durch in der Schweiz ansässige Ärzte, so dass die Anwendung unionsrechtlicher Grundfreiheiten nicht in Betracht kommt. Aus demselben Grund liegt auch kein Verstoß gegen § 3 Abs. 2 TMG vor. Streitgegenständlich ist zudem die Bewerbung von Fernbehandlungen durch ein in Deutschland ansässiges Unternehmen und nicht die Werbung von in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässigen Ärzten für ihre Dienstleistung.

(7) Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Revision erwähnten Art. 5 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. L 114 vom 30. April 2002, Seite 6 ff.). Ob die in der Schweiz ansässigen und dort auch tätigen Ärzte, deren Dienstleistung Gegenstand der angegriffenen Werbung ist, in dem durch Art. 5 Abs. 1 des Abkommens geregelten Recht auf Erbringung einer Dienstleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates und in den insoweit in den Absätzen 2 bis 4 geregelten Rechten auf Einreise und Aufenthalt betroffen sind, bedarf keiner Prüfung. Wie dargelegt, steht vorliegend die Zulässigkeit der Werbung eines deutschen Unternehmens in Deutschland in Rede. Aber selbst, wenn man zu Gunsten der Beklagten eine mittelbare Betroffenheit der in der Schweiz ansässigen und dort die beworbene Fernbehandlung erbringenden Ärzte berücksichtigen wollte, läge kein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit nach dem Abkommen vor, weil § 9 HWG unterschiedslos für reine Inlandssachverhalte gilt und daher die durch Art. 5 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang I Art. 19 des Abkommens geforderte Gleichbehandlung wahrt.

c) Die angegriffene Werbung der Beklagten verstößt außerdem gegen § 9 HWG nF. Zwar hat das Berufungsgericht den Begriff der „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ im Sinne von § 9 Satz 2 HWG nF nicht zutreffend bestimmt (dazu B II 3 c cc). Es ist jedoch mit Recht davon ausgegangen, dass die Werbung der Beklagten im Streitfall nicht den gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß § 9 Satz 2 HWG entspricht (dazu B II 3 c dd).

aa) Gemäß § 9 Satz 1 HWG alter und neuer Fassung ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung), unzulässig. Nach dem durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz mit Wirkung vom 19. Dezember 2019 eingeführten Satz 2 dieser Bestimmung ist Satz 1 nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

bb) Das Berufungsgericht hat angenommen, der Gesetzgeber habe mit dem neu eingeführten Satz 2 des § 9 HWG nF dem Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages Rechnung getragen, mit dem durch § 7 Abs. 4 Muster-Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) die Anpassung des ärztlichen Berufsrechts im Sinne einer Liberalisierung der Zulässigkeit von Fernbehandlungen erfolgt sei. Dieser Neuregelung sei zu entnehmen, dass der Grundsatz der ärztlichen Beratung und Behandlung im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient im Rahmen einer physischen Präsenz des Arztes weiterhin der „Goldstandard“ ärztlichen Handels sei. Zwar sei in Bezug auf den einzelnen Behandlungsfall mit der neuen Regelung eine Beratung und Behandlung ausschließlich aus der Ferne über Kommunikationsmedien erlaubt, um den Patienten mit der Fort- und Weiterentwicklung telemedizinischer, digitaler, diagnostischer und anderer vergleichbarer Möglichkeiten eine dem anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse entsprechende ärztliche Versorgung anbieten zu können. Zu vermeiden seien allerdings telemedizinische Primärarztmodelle. Im Streitfall habe die Beklagte für ein solches digitales Primärversorgungsmodell geworben. Gegenstand des beworbenen Modells sei eine ausschließliche Videokonsultation, bei der sich der Arzt von vornherein auf eine verkürzte Wahrnehmung bei der Anamnese verlassen müsse. Die im Streitfall beworbene Ersetzung des persönlichen Arztbesuchs durch eine digitale Fernbehandlung per digitaler App „von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis hin zur Krankschreibung“ für nicht näher konkretisierte Behandlungsfälle und -situationen durch in der Schweiz sitzende Ärzte werde in dieser generellen Weise durch den Ausnahmetatbestand des § 9 Satz 2 HWG nF nicht gedeckt. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass bei Einhaltung allgemein anerkannter fachlicher Standards kein persönlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen erforderlich sei. Vielmehr erfordere grundsätzlich jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung, die in der Regel unmittelbar durch Funktionsprüfungen (etwa von Atmung, Kreislauf, Blutdruck) und Besichtigungen, Abtasten, Abklopfen und Abhören des Körpers sowie gegebenenfalls der Erhebung weiterer Laborwerte erfolge. Auch für die von der Beklagten beworbene Krankschreibung sei ein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient erforderlich. Der insoweit geltende fachliche Standard ergebe sich aus § 25 Satz 1 MBO-Ä und der Wertung von § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie betreffend gesetzlich Versicherte sowie der Entschließung des 121. Deutschen Ärztetags.

cc) Das Berufungsgericht hat den seiner Beurteilung zugrunde gelegten Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards nicht zutreffend bestimmt.

(1) Bei der Auslegung des Erlaubnistatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG nF kommt es im Ausgangspunkt auf eine abstrakte, generalisierende Bewertung an, da sich Werbung unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl nicht näher individualisierter Personen richtet (vgl. Regierungsentwurf DVG, BT-Drucks. 19/13438, S. 78; Doepner/Reese in BeckOK.HWG aaO § 9 Rn. 63). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung des Ausnahmetatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung tragen wollte und von der Einhaltung anerkannter fachlicher Standards bereits dann ausgegangen ist, wenn danach eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist (Regierungsentwurf zum DVG, BT-Drucks. 19/13438, S. 78). Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber von einem dynamischen Prozess ausgegangen ist, in dem sich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten auch der anerkannte fachliche Standard ändern kann (vgl. Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl., Kap. X Rn. 13; Tillmanns, A&R 2020, 11, 15).

Damit steht die vom Berufungsgericht bei der Auslegung von § 9 Satz 2 HWG zugrunde gelegte Annahme nicht im Einklang, die ärztliche Beratung und Behandlung im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient in physischer Präsenz stelle weiterhin den „Goldstandard“ ärztlichen Handelns dar, es sei zudem davon auszugehen, dass grundsätzlich jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung erfordere, die im Regelfall Funktionsprüfungen unter Anwesenheit des Arztes einschließe und es stehe im Fall einer ausschließlichen Fernbehandlung grundsätzlich der Vorwurf einer Vernachlässigung der Befunderhebungspflicht im Raum.

(2) Das Berufungsgericht ist bei seiner Auslegung außerdem von der Neuregelung in § 7 Abs. 4 MBO-Ä ausgegangen und hat damit für die Auslegung des Begriffs der „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ im Sinne von § 9 Satz 2 HWG die Regelungen des ärztlichen Berufsrechts für maßgeblich gehalten (ebenso OLG Hamburg, Urteil vom 5. November 2020 – 5 U 175/19, MMR 2021, 336 Rn. 39 [juris Rn. 50]; Doepner/Reese in BeckOK.HWG aaO § 9 HWG Rn. 63). Dies hält der rechtlichen Nachprüfung ebenfalls nicht stand. Der in § 9 Satz 2 HWG verwendete Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards ist vielmehr unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff gemäß § 630a Abs. 2 BGB und die dazu mit Blick auf die vom Arzt zu erfüllenden Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag entwickelten Grundsätze auszulegen (vgl. Tillmanns, A&R 2020, 11, 15; zur Anwendung des § 630a Abs. 2 BGB auf die medizinische Fernbehandlung vgl. Eichelberger in Festschrift Harte-Bavendamm, 2020, S. 289, 294 f.; Kaeding, MedR 2019, 288; Katzenmeier, NJW 2019, 1769, 1170 f.). Nach dieser Bestimmung hat die Behandlung im Rahmen eines medizinischen Behandlungsvertrags nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.

Für eine solche Auslegung des § 9 Satz 2 HWG spricht nicht nur, dass der Wortlaut des § 630a Abs. 2 BGB gleichfalls auf den Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards abstellt. Auch unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten erscheint es sachgerecht, den für die pflichtgemäße Erfüllung der dem Arzt aus dem Behandlungsvertrag erwachsenden Pflichten maßgeblichen Begriff auch für die Frage fruchtbar zu machen, ob diese Pflichten eine Fernbehandlung zulassen und deshalb für eine Fernbehandlung geworben wer-den darf. Zudem ermöglicht ein solcher Gleichklang bei der Auslegung den Rückgriff auf die umfangreiche Rechtsprechung zu § 630a Abs. 2 BGB (vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, NJW 2015, 1601 Rn. 7 mwN) und dient damit der vorhersehbaren und rechtssicheren Anwendung des Erlaubnistatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG. Bei der Bestimmung der anerkannten fachlichen Standards können sowohl die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften als auch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V Berücksichtigung finden (vgl. MünchKomm.BGB/Wagner, 8. Aufl., § 630a Rn. 126; Frahm, NJW 2021, 216 Rn. 7 f. mwN; Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BT-Drucks. 17/10488, S. 19). Beispielsweise soll der Gemeinsame Bundesausschuss gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 SGB V unter anderem Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Nr. 5) und die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (Nr. 7) beschließen. Mit einer an § 630a Abs. 2 BGB orientierten Auslegung wird damit dem vom Gesetzgeber verfolgten Anliegen entsprochen, einen abstrakt-generalisierenden Maßstab für die Zulässigkeit der Werbung für eine Fernbehandlung zugrunde zu legen und zudem mit der Schaffung des § 9 Satz 2 HWG der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten durch die dynamische Ausbildung und Anpassung von Standards Rechnung zu tragen (vgl. Regierungsentwurf zum DVG, BT-Drucks. 19/13438, S. 78; Katzenmeier in Laufs/Katzenmeier/Lipp aaO Kap. X Rn. 13; Tillmanns, A&R 2020, 11, 15).

Die in § 7 Abs. 4 MBO-Ä nF getroffene berufsrechtliche Regelung ist dagegen für die Auslegung von § 9 Satz 2 HWG nicht zielführend. Nach dieser Bestimmung können die Ärztinnen und Ärzte bei der in persönlichem Kontakt zu erbringenden Beratung und Behandlung Kommunikationsmedien zwar unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist jedoch nur im Einzelfall erlaubt und setzt voraus, dass dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird. Diese Bestimmung enthält eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Anweisung an die behandelnde Person und bietet keinen abstrakt-generalisierenden Maßstab für die Beurteilung von an eine Vielzahl von nicht näher individualisierten Personen gerichteter Werbung (vgl. den Regierungsentwurf zum DVG, BT-Drucks. 19/13438, S. 78). Zudem ist die Muster-Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in den einzelnen maßgeblichen Berufsordnungen der Bundesländer nicht einheitlich umgesetzt worden (vgl. den Regierungsentwurf zum DVG, BT-Drucks. 19/13438, S. 78). Auch deshalb kann es im Interesse einer bundesweit einheitlichen Handhabung im Rahmen der Regelung des § 9 HWG nicht auf die berufsrechtlich zu treffenden konkreten und individuellen Einzelfallentscheidungen ankommen.

(3) Gegen die vorstehenden Grundsätze spricht nicht, dass eine ausschließliche Fernbehandlung erst in jüngerer Zeit und dann auch nur im Einzelfall zulässig geworden ist und daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur in wenigen Fällen einschlägige Fernbehandlungsrichtlinien existieren dürften, die den Anforderungen an einen anerkannten fachlichen Standard im Sinne von § 630a Abs. 2 BGB entsprechen (vgl. Tillmanns, A&R 2020, 11, 15 f.). Der Gesetzgeber hat mit dem von ihm gewählten Maßstab, wonach die fachlichen Standards anerkannt sein müssen, mit Blick auf die von ihm konstatierte dynamische Weiterentwicklung der telemedizinischen Möglichkeiten sachnotwendig eine gewisse Übergangszeit in Rechnung gestellt (zu bereits laufenden Modellprojekten vgl. Tillmanns, A&R 2020, 11 und 16 mwN). Dies ist angesichts des hohen Schutzguts, das dem grundsätzlichen Werbeverbot im Sinne von § 9 HWG zugrunde liegt (vgl. oben Rn. 41), sachlich gerechtfertigt.

Soweit die Revision geltend macht, solange noch kein fachlicher Standard etabliert sei, müsse es ausreichen, dass für die zu bewerbende Fernbehandlung praktisch relevante Anwendungsfälle bestünden oder solche denkbar seien, was regelmäßig bei einer Erstanamnese von „Alltagsleiden“ wie grippalen Infekten, Verdauungsbeschwerden, Hauterkrankungen usw. anzunehmen sei, kann dem nicht zugestimmt werden. Mit einer solchen Auslegung wird in der Sache auf das vom Gesetzgeber ausdrücklich geforderte, einen angemessenen Gesundheitsschutz des Patienten sicherstellende Tatbestandsmerkmal verzichtet, wonach „anerkannte Standards“ für die Frage maßgeblich sein sollen, ob eine Fernbehandlung beworben werden darf. Die von der Revision vertretene Auslegung ist auch nicht sachgerecht. Bereits der Begriff des „Alltagsleidens“ ist schillernd und lässt ohne weitere Konkretisierung etwa durch die Aufstellung von Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, einen hinreichend tragfähigen medizinischen Bezug zu der Frage vermissen, ob ein solches Leiden allein mithilfe von Kommunikationsmitteln diagnostiziert und behandelt werden kann oder ob der Arzt darüber hinaus auch weitere Sinneseindrücke wie Abtasten oder Abhorchen benötigt, um beispielsweise einen grippalen Infekt von einer Covid-19-Infektion, ein Verdauungsproblem von einem Blinddarmdurchbruch oder eine Hautreizung von Hautkrebs zu unterscheiden.

(4) Da es mithin für die Auslegung von § 9 Satz 2 HWG nicht auf berufsrechtliche Bestimmungen ankommt, ist entgegen der Ansicht der Revision auch nicht der Umstand maßgeblich, dass nach dem Vorbringen der Beklagten die beworbene Fernbehandlung nach schweizerischem ärztlichem Berufsrecht zulässig ist. Aus dem gleichen Grund folgt aus der Zulässigkeit einer Fernbehandlung nach deutschem ärztlichen Berufsrecht nicht, dass dafür gemäß § 9 Satz 2 HWG auch geworben werden darf.

dd) Das Berufungsgericht ist allerdings im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Werbung der Beklagten im Streitfall nicht den gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß § 9 Satz 2 HWG entspricht (§ 561 ZPO).

(1) Die Beantwortung der für § 9 Satz 2 HWG maßgeblichen Frage, für welche Fernbehandlungen geworben wurde, hängt davon ab, welchen Inhalt der angesprochene Verkehr der in Rede stehenden Werbung entnimmt. Die Verkehrsanschauung ist durch das Tatgericht zu beurteilen; seine Würdigung ist nach den allgemeinen Grundsätzen vom Revisionsgericht überprüfbar. Danach ist maßgeblich, ob das Tatgericht einen zutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt, nicht gegen Erfahrungssätze oder die Denkgesetze verstoßen und keine wesentlichen Umstände unberücksichtigt gelassen hat (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 2020 – I ZR 137/19, GRUR 2021, 473 Rn. 21 = WRP 2021, 196 – Papierspender; Urteil vom 27. Mai 2021 I ZR 119/20, GRUR 2021, 1286 Rn. 17 = WRP 2021, 1309 – Lautsprecherfoto).

Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, die Beklagte habe ein umfassendes, nicht auf bestimmte Krankheitsbilder eingeschränktes digitales Primärversorgungsmodell beworben. Auf der Internetseite werde mit einer ausschließlichen Videokonsultation alternativ zum traditionellen Arztbesuch mit dem Umfang einer kompletten ärztlichen Versorgung, nämlich für Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen mittels einer App geworben. Zwar werde dem von der Werbung angesprochenen potenziellen Patienten grundsätzlich bewusst sein, dass im Wege einer Fernbehandlung in tatsächlicher Hinsicht nur begrenzte Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten des Arztes bestünden, also je nach Krankheitsbild weitergehende Untersuchungen und ärztliche Eingriffe erforderlich sein könnten. In der streitgegenständlichen Werbung komme aber nicht zum Ausdruck, dass auch im Rahmen dieser tatsächlich eingeschränkten Möglichkeiten eine Werbung für Fernbehandlungen nicht generell zulässig sei, sondern nur unter der Voraussetzung, dass bei Einhaltung allgemein anerkannter Standards kein persönlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen erforderlich sei. Diese tatgerichtliche Würdigung hält der rechtlichen Nachprüfung stand.

Entgegen der Rüge der Revision hat das Berufungsgericht berücksichtigt, dass der angesprochene Verkehr in Rechnung stellt, dass je nach Krankheitsbild weitergehende Untersuchungen erforderlich sein könnten. Mit ihrem außerdem erhobenen Einwand, der Verkehr werde die Werbung entgegen der Würdigung des Berufungsgerichts dahin verstehen, dass sich die angebotene Fernbehandlung nur auf allgemeine medizinische Probleme bzw. auf bestimmte Fälle beziehe, in denen eine Fernkonsultation auch medizinisch möglich und vertretbar sei, legt die Revision keinen Rechtsfehler des Berufungsgerichts dar, sondern setzt nur ihre eigene Bewertung an die Stelle der tatgerichtlichen Beurteilung. Zudem berücksichtigt die Revision nicht, dass bei gesundheitsbezogener Werbung besonders strenge Anforderungen an die Richtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der Werbeaussage zu stellen sind, da mit irreführenden gesundheitsbezogenen Angaben erhebliche Gefahren für das hohe Schutzgut des Einzelnen sowie der Bevölkerung verbunden sein können (BGH, Urteil vom 3. Mai 2001 – I ZR 318/98, GRUR 2002, 182, 185 [juris Rn. 44] = WRP 2002, 74 – Das Beste jeden Morgen; Urteil vom 6. Februar 2013 – I ZR 62/11, GRUR 2013, 649 Rn. 15 = WRP 2013, 772 – Basisinsulin mit Gewichtsvorteil; Urteil vom 11. Februar 2021 – I ZR 126/19, GRUR 2021, 746 Rn. 32 = WRP 2021, 604 – Dr. Z; zum für die Werbung mit gesundheitsbezogenen Angaben geltenden Strengeprinzip vgl. auch BGH, Urteil vom 5. November 2020 – I ZR 204/19, GRUR 2021, 513 Rn. 17 = WRP 2021, 327 – Sinupret). Diese Grundsätze gelten mit Blick auf die hohe Wertigkeit der durch § 9 HWG geschützten Gesundheitsinteressen auch für die Beurteilung einer Werbung für Fernbehandlungen im Sinne von Satz 2 dieser Vorschrift.

(2) Auf der Grundlage seiner rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Werbung nicht auf Fernbehandlungen begrenzt ist, für die nach allgemeinen fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

Wie dargelegt wurde (dazu Rn. 53 f.), richtet sich die Beurteilung des Vorliegens eines anerkannten fachlichen Standards nach den für § 630a Abs. 2 BGB maßgeblichen Grundsätzen. Danach gibt ein fachlicher Standard Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (BGH, NJW 2015, 1601 Rn. 7 mwN). Bei der Bestimmung des anerkannten fachlichen Standards sind die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und die Richtlinien des Gemeinsamen Bun-desausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V zu berücksichtigen. Weiterhin können sich fachliche Standards auch unabhängig davon bilden (zu den Einschätzungen der Bewertungsausschüsse gemäß § 87 SGB-V vgl. Kuhn/Hesse, GesR 2017, 221, 224; Tillmanns, A&R 2020, 11, 15). Die Ermittlung des jeweils maßgeblichen Standards ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts (BGH, Urteil vom 27. März 2007 – VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 17; Urteil vom 15. April 2014 – VI ZR 382/12, NJW-RR 2014, 1053 Rn. 13; BGH, NJW 2015, 1601 Rn. 8), das gegebenenfalls einen Sachverständigen hinzuzuziehen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Mai 2016 – VI ZR 305/15, NJW 2016, 3785 Rn. 13; Beschluss vom 8. November 2016 – VI ZR 512/15, VersR 2017, 316 Rn. 12).

Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, dass die von der Beklagten beworbene umfassende Fernbehandlung nach diesen Grundsätzen den allgemeinen fachlichen Standards entspricht. Dass es dabei Vortrag der insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten unberücksichtigt gelassen hat, ist nicht ersichtlich und wird von der Revision auch nicht geltend gemacht.

4. Im vorliegenden Revisionsverfahren kann eine Verurteilung der Beklagten mit Bezug auf die konkret beanstandete Internetwerbung aufrechterhalten bleiben, ohne dass es einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht bedarf (§ 563 Abs. 3 ZPO). Eine Zurückverweisung ist nicht erforderlich, weil der Senat auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts selbst beurteilen kann, dass die Voraussetzungen des mit der Klage geltend gemachten Unterlassungsanspruchs mit Blick auf die zur Überprüfung gestellte konkrete Werbung vorliegen, und weiterer Sachvortrag der Parteien hierzu nicht zu erwarten ist.

III. Das Berufungsgericht ist ebenfalls zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin aus § 12 Abs. 1 Satz 2 UWG Erstattung der Abmahnkosten verlangen kann. Für den Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten kommt es auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Abmahnung an (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 – I ZR 17/18, GRUR 2021, 752 Rn. 13 und 32 bis 34 = WRP 2021, 746 – Berechtigte Gegenabmahnung, mwN). Nach Erlass des Berufungsurteils ist die Regelung über den Ersatz von Abmahnkosten in § 12 Abs. 1 Satz 2 UWG mit Wirkung ab dem 2. Dezember 2020 durch das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs (BGBl. I 2020, S. 2568) geändert worden. Der Anspruch richtet sich daher nach § 12 Abs. 1 Satz 2 UWG in der bis zum 1. Dezember 2020 geltenden Fassung. Danach kann der Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangt werden, soweit die Abmahnung berechtigt ist. Das ist hier der Fall, da das abgemahnte Verhalten der Beklagten sich zu diesem Zeitpunkt aus den oben angeführten Gründen (B II 3 b) als unzulässig darstellte. Die im Streitfall geltend gemachte Erstattung der Abmahnkostenpauschale des klagenden Verbands ist auch dann in voller Höhe geschuldet, wenn die Abmahnung nur teilweise berechtigt war (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2009 – I ZR 149/07, GRUR 2010, 744 Rn. 51 = WRP 2010, 1023 – Sondernewsletter; Beschluss vom 25. Juni 2019 – I ZR 91/18, juris Rn. 10 mwN; Sosnitza in Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl., § 12 Rn. 23; Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 39. Aufl., § 13 Rn. 122). Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die Abmahnung über die konkrete Verletzungsform hinausging.

IV. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 21 = NJW 1983, 1257 – Cilfit u.a.; Urteil vom 1. Ok-tober 2015 – C-452/14, GRUR Int. 2015, 1152 Rn. 43 – Doc Generici; Urteil vom 6. Oktober 2021 – C-561/19, NJW 2021, 3303 Rn. 33, 36 und 39 bis 49 – Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, mwN). Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Unionsrechts, die nicht bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt oder nicht zweifelsfrei zu beantworten ist. Aus der Entscheidung des Gerichtshofs „DocMorris NV/Apothekerkammer Nordrhein“ ergibt sich, dass die hier streitgegenständliche Wer-bung für eine ärztliche Fernbehandlung zweifelsfrei nicht in den Anwendungsbereich der für Arzneimittelwerbung maßgeblichen Bestimmung der Richtlinie 2001/83/EG fällt (vgl. Rn. 36).

C. Danach ist das Berufungsurteil auf die Revision der Beklagten unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise aufzuheben und insgesamt dahin neu zu fassen, dass das landgerichtliche Urteil auf die Berufung der Beklagten in der Weise abgeändert wird, dass im Tenor des Urteils unter Ziffer I das Wort „insbesondere“ entfällt und der weitergehende Unterlassungsantrag abgewiesen wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

Vorinstanzen:
LG München I, Urteil vom 16.07.2019, Az. 33 O 4026/18
OLG München, Urteil vom 09.07.2020, Az. 6 U 5180/19

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