LG Düsseldorf, Urteil vom 02.02.2023, Az. 14c O 74/22
Art. 103 Abs. 1 GG
Das LG Düsseldorf hat entschieden, dass ein Mangel vor Erlass der einstweiligen Verfügung jedenfalls dann als geheilt gilt, wenn der Verfügungsgegner Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung einlegt und ihm in den vorbereitenden Schriftsätzen und in dem Termin zur mündlichen Verhandlung über den Widerspruch Gelegenheit gegeben wird, sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Argumente vorzubringen. Die Kammer verwies insoweit auf die Entscheidungen BVerfG, Beschluss vom 08.09.2020, Az. 2 BvQ 65/20, Rn. 3 und OLG Düsseldorf, Urteil vom 27.02.2019, Az. I-15 U 45/18, Rn. 9. Insoweit sei zu beachten, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Verfügung stets ohne jedwede Bindung an die vorhergehende Entscheidung erfolge und sich nicht etwa in der Klärung der Frage erschöpfe, ob diese seinerzeit zu Recht erlassen worden sei. Das Gericht habe auf den Widerspruch hin vielmehr zu prüfen, ob im allein maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung über den Widerspruch sämtliche Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegeben seien. Zum Volltext der Entscheidung:
Landgericht Düsseldorf
Urteil
…
I.
Die einstweilige Verfügung der Kammer vom 08.09.2022 wird bestätigt. Es wird festgestellt, dass der Tenor der einstweiligen Verfügung der Kammer vom 08.09.2022 insoweit wirkungslos ist, als er den Ausspruch unter Ziffern II. (Sequestrationsanspruch) und III. (Auskunftsanspruch) betrifft.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die weiteren Kosten des Verfahrens.
1Tatbestand
2Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin auf Unterlassung wegen der Verletzung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters in Anspruch.
3Die Antragstellerin betreibt einen Fachhandel für Leuchtmittel in Wuppertal. Zugunsten der Yuyao Hilite Electric Co, Ltd. (im Folgenden: Inhaberin) ist ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster unter der Nummer 004555001-0006 (im Folgenden: Verfügungsgeschmacksmuster) mit der englischsprachigen Erzeugnisangabe „LED Lights“ (in deutscher Übersetzung „Dioden“) am 18.12.2017 im Register des European Union Intellectual Property Office (EUIPO) angemeldet und seit dem 20.12.2017 eingetragen und veröffentlicht. Das Verfügungsgeschmacksmuster steht in Kraft und zeigt eine Leuchte wie nachfolgend wiedergegeben:
4Abbildung 1/7
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6Abbildung 2/7
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8Abbildung 3/7
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10Abbildung 4/7
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12Abbildung 5/7
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14Abbildung 6/7
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16Abbildung 7/7
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18Die Antragstellerin ist Vertriebspartnerin und Lizenznehmerin der Inhaberin des Verfügungsgeschmacksmusters (Lizenzvertrag vorgelegt als Anlage AR 01). Sie vertreibt entsprechend dem Verfügungsgeschmacksmuster eine dimmbare LED Akku-Tischlampen mit dem Namen „m“.
19Die Antragsgegnerin, eine Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, bot auf der Internetseite https://xxxx verschiedene Dekorationsobjekte an, u.a. die hier angegriffene Leuchte. Die Internetseite ist auf Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch abrufbar. Die Antragsgegnerin vertrieb die angegriffene Leuchte zudem über andere Plattformen, beispielsweise auf ManoMano.de, Amazon.de, Limango.de und Kaufland.de. Die Antragsgegnerin war ursprünglich ebenfalls Lizenznehmerin der Inhaberin des Verfügungsgeschmacksmusters. Die Vertrags- und Lieferbeziehung wurde im März 2021 eingestellt.
20Die Antragstellerin führte einen Testkauf durch, woraufhin die angegriffene Leuchte ihr am 16.08.2022 nach Deutschland geliefert wurde. Mit Schreiben vom 18.08.2022 mahnte die Antragstellerin die Antragsgegnerin erfolglos wegen Verletzung des Verfügungsgeschmacksmusters und wegen einer Verbrauchertäuschung gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 3a und § 5 UWG ab (vgl. Anlage AR 04).
21Die Kammer hat auf Antrag der Antragstellerin, der am 05.09.2022 beim Landgericht Düsseldorf eingegangen ist, und mit Schriftsatz vom 07.09.2022 auf entsprechende Hinweise der Kammer teilweise, im Hinblick auf die Reichweite des zunächst europaweit geltend gemachten Unterlassungsanspruchs (Ziffer I.) sowie des Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruch (Ziffer III.), zurückgenommen worden ist, mit Beschluss vom 08.09.2022 der Antragsgegnerin bei Meidung gesetzlicher Ordnungsmittel untersagt,
22in der Bundesrepublik Deutschland im geschäftlichen Verkehr Lampen, wie nachstehend dargestellt:
23
24zu benutzen, insbesondere anzubieten, zu bewerben, in den Verkehr zu bringen und/oder anbieten, bewerben oder in den Verkehr bringen zu lassen, und/oder zu den vorgenannten Zwecken zu besitzen und/oder einzuführen oder auszuführen, sofern es sich hierbei um nicht lizensierte oder erschöpfte Produkte handelt (Ziffer I.);
25und die Antragsgegnerin verpflichtet,
26alle in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder Eigentum befindlichen Gegenstände entsprechend Ziff. I. an einen von der Antragstellerin zu beauftragenden, örtlich zuständigen Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Aufbewahrung herauszugeben (Ziffer II.); sowie
27der Antragstellerin Auskunft zu erteilen über Art und Umfang der unter Ziff. I. bezeichneten Handlungen und zwar durch Vorlage eines chronologisch geordneten Verzeichnisses, aus dem sich ergeben:
28291. Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderen Vorbesitzer, Liefermengen, Typenbezeichnungen, Artikelnummern, Lieferzeiten und Lieferpreise sowie
30312. Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer und gewerblichen Adressaten von Angeboten (Ziffer III.).
32Die Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022 wurde den Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 12.09.2022 zugestellt. Am selben Tag hat die Antragstellerin der Antragsgegnerin per E-Mail informatorisch die Beschlussverfügung mitsamt maschineller Übersetzung ins Englische und ins Französische übersandt (Anlage AR 16).
33Am 03.10.2022 wurde der Antragsgegnerin nach entsprechendem Antrag der Antragstellerin vom 21.09.2022 eine einfache Abschrift der Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022 nebst Verfügungsantrag vom 05.09.2022, der Anlage AR 02, der Verfügung der Kammer vom 06.09.2022 und dem Telefonvermerk vom 07.09.2022 sowie dem Schriftsatz der Antragstellerin vom 07.09.2022 jeweils in Schwarz/Weiß postalisch per Einschreiben gegen Rückschein zugestellt. Zugleich wurde auch die Beschlussverfügung der Kammer in französischer Sprache mit farbigen Abbildungen und dem Vermerk der Übersetzerin, dass es sich um eine beglaubigte Übersetzung handele, zugestellt.
34Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 18.10.2022 Widerspruch gegen die Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022 eingelegt.
35Die Antragstellerin ist der Ansicht, weder die von der Antragsgegnerin in der Widerspruchsbegründung vorgebrachten noch die bereits vom Gericht berücksichtigten Entgegenhaltungen erschütterten den Rechtsbestand des Verfügungsgeschmacksmusters. Sie behauptet, die Lampe L der YYY SRL (im Folgenden: YYY) sei nicht vorbekannt, da sie erst nach 2018 veröffentlicht worden sei. Die YYY vertreibe die Lampe L auf Grund eines Lizenzvertrags mit der Inhaberin des Verfügungsgeschmacksmusters, der erst im Januar 2018 zustande gekommen sei (Eidesstattliche Versicherung des Designers N, Anlage AR 09). Es sei also ausgeschlossen, dass die Lampe L von YYY vor 2018 vertrieben oder der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden sei (Eidesstattliche Versicherung des Geschäftsführers der YYY SRL, Anlage AR 11). Die insoweit von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen Datumsangaben der Suchmaschine Google seien unzutreffend. Der Zeitstempel bei dem Google-Eintrag bezeichne nicht das Datum der Veröffentlichung der Lampe. Die Datumsangaben bei Sucheinträgen würden bei Google erzeugt, indem auf Daten auf der verlinkten Seite selbst zurückgegriffen werde. Das Datum gebe also nicht an, wann die konkrete Seite mit ihrem Inhalt Online gestellt wurde. Dieses Phänomen werde zum Beispiel in dem als Anlage AR 10 übermittelten Artikel einer auf Suchmaschinenoptimierung spezialisierten Agentur beschrieben. Dasselbe gelte für die von der Antragsgegnerin vorgelegten Screenshots von verschiedenen Webshops. Die weiteren von der Antragsgegnerin vorgebrachten Entgegenhaltungen seien für den Rechtsbestand des Verfügungsgeschmacksmusters nicht relevant. Keine dieser Entgegenhaltungen verfüge über eine größere Nähe zum Verfügungsgeschmacksmuster als das bereits von der Kammer gewürdigte eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 000679030-0003.
36Die Antragsgegnerin verletze die Rechte der Antragstellerin aus dem Verfügungsgeschmacksmuster, da es sich bei der angegriffenen Ausführungsform um eine nahezu identische Nachahmung des Verfügungsgeschmacksmusters handele.
37Überdies sei das Recht der Antragsgegnerin auf rechtliches Gehör gewahrt. Sollte eine vorherige Anhörung erforderlich gewesen sein – was nicht der Fall sei –, so seien etwaige Mängel jedenfalls in der mündlichen Verhandlung geheilt worden. Die Übersendung der deutschsprachigen Abmahnung sei zulässig und wirksam. Sie habe berechtigterweise davon ausgehen können, dass die Antragsgegnerin die Abmahnung in deutscher Sprache verstehe. Eine Inkongruenz von Abmahnung und Verfügungsantrag habe vorliegend kein Anhörungserfordernis ausgelöst, weil der Verfügungsantrag als Minus hinter den in der Abmahnung geltend gemachten Ansprüchen zurückbleibe. Die Darlegung des Formenschatzes sei unschädlich. Eine Anhörung nach den richterlichen Hinweisen sei nicht erforderlich gewesen, weil sie lediglich zu einer Einschränkung des Verfügungsantrages aus rein prozessualen Gründen geführt hätten.
38Schließlich habe sie die Beschlussverfügung der Kammer ordnungsgemäß und rechtzeitig vollzogen.
39Die Antragstellerin beantragt,
40 zu erkennen wie geschehen.
41Die Antragsgegnerin beantragt,
42die einstweilige Verfügung des Landgerichts Düsseldorf vom 08.09.2022 – 14c O 74/22 – aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 05.09.2022, in der Form des Schriftsatzes vom 07.09.2022, zurückzuweisen.
43Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, es fehle am Verfügungsgrund und am Verfügungsanspruch. Außerdem sei die Beschlussverfügung der Kammer wegen Verletzung ihres Rechts auf prozessuale Waffengleichheit und mangels wirksamer Vollziehung durch die Antragstellerin aufzuheben.
44Es fehle dem Verfügungsgeschmacksmuster insbesondere im Verhältnis zu der Entgegenhaltung L von YYY, aber auch zum eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 000679030-0003 (Entgegenhaltung AS 1) an der Voraussetzung der Neuheit, jedenfalls aber auch unter Berücksichtigung des weiteren vorbekannten Formenschatzes (vgl. dazu Vortrag im Einzelnen insbesondere auf Bl. 106 bis 109 GA) an der erforderlichen Eigenart. Zur Leuchte L von YYY behauptet die Antragsgegnerin, diese sei bereits Mitte April 2016 erstmals über den bekannten Online-Shop zzzz zum Verkauf angeboten und veröffentlicht worden. In Anlage AG 2 i) seien noch weitere Veröffentlichungsnachweise in dem Jahr 2016 zu dem Lampenmodell L von YYY enthalten. Unabhängig davon habe der (vorsorglich ebenfalls mit Nichtwissen bestrittene) Vertriebsbeginn des Lampenmodells L von YYY ab 2018 überhaupt keine Aussagekraft darüber, ab wann das Lampenmodell erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Ein Vertriebsbeginn schließe sicher nicht aus, dass das Lampendesign bereits im Vorfeld angeboten, beworben oder auf andere Art und Weise der Öffentlichkeit im Sinne des Art. 7 Abs. 2 GGV zugänglich gemacht worden sei.
45Überdies weise das Verfügungsgeschmacksmuster widersprüchliche Darstellungen auf und sei auch deshalb nichtig, Art. 25 Nr. 1 lit. a) i.V.m. Art. 3 lit. a) GGV. So seien die Abbildungen 1 und 4 des Verfügungsgeschmacksmusters widersprüchlich zu den Abbildungen 2, 3, 5 bis 7 des Verfügungsgeschmacksmusters. Es sei zwar richtig, dass bei diagonaler Messung des quadratischen Lampenfußes die Länge der Diagonalen den Durchmesser des unteren Teils des Lampenschirms leicht übersteige (Abbildungen 1 und 4 des Verfügungsgeschmacksmusters). Dieses Ergebnis gelte aber in der Draufsicht nur für den unmittelbaren Vergleich dieser 2-dimensionalen Flächen zueinander; d.h. wenn man sie übereinanderlege. In den übrigen Abbildungen zeige das Verfügungsgeschmacksmuster demgegenüber aber eine dreidimensionale Lampe bestehend aus Lampenschirm, Lampenfuß und relativ langem Lampenstab. Entweder zeigten also die Abbildungen 1 und 4 eine Lampe mit relativ langem Lampenstab (entsprechend zu Abbildungen 2, 3, 5 bis 7), aber mit einem im Vergleich zu den Abbildungen 2, 3, 5 bis 7 deutlich breiteren Lampenfuß; oder die Abbildungen 1 und 4 zeigten einen Lampenschirm und Lampenfuß mit identischen Maßen wie in den Abbildungen 2, 3, 5 bis 7, aber – anders als in Abbildungen 2, 3, 5 bis 7 – ohne bzw. mit sehr kurzem Lampenstab.
46Selbst wenn man die Rechtsgültigkeit des Verfügungsgeschmacksmusters unterstellte, käme diesem ein sehr geringer Schutzumfang zu, in den die angegriffene Leuchte nicht falle, weil sie mit dem Verfügungsgeschmacksmuster jedenfalls nicht nahezu identisch sei.
47Überdies habe die Antragstellerin das Vorliegen eines Verfügungsgrundes nicht glaubhaft gemacht. Sie habe insbesondere nichts dazu vorgetragen, wann sie erstmals die von der Antragsgegnerin seit Ende Juni 2022 vertriebenen Lampenmodelle online entdeckt habe und warum es erst knapp zwei Monate nach Vertriebsbeginn zu der Durchführung eines Testkaufs gekommen sei.
48Des Weiteren sei ihr Recht auf prozessuale Waffengleichheit nicht gewahrt worden. So habe sie kein wirksames vorgerichtliches Gehör erhalten. Die Abmahnung vom 18.08.2022 erfülle die verfassungsrechtlich begründeten Anforderungen schon deshalb nicht, weil die Antragstellerin der Antragsgegnerin allein – unstreitig – eine deutschsprachige Abmahnung gesandt habe. Ferner hätte die Kammer die Antragsgegnerin auch von den Hinweisen vom 06.09. und 07.09.2022 in Kenntnis setzen müssen. Auch habe – unstreitig – keine wörtliche Kongruenz zwischen Abmahnung und Eilantrag bestanden, was ebenfalls ihr Recht auf vorgerichtliches Gehör verletze. Insbesondere der unvollständige Vortrag der Antragstellerin mit Blick auf (angeblich) parallele Lizenzverhältnisse stelle sich als rechtsmissbräuchlich dar.
49Schließlich sei die Beschlussverfügung der Kammer mangels Vollziehung aufzuheben, da die Antragstellerin ihr weder eine Ausfertigung noch eine beglaubigte Abschrift der Beschlussverfügung, sondern lediglich eine einfacher Abschrift und diese darüber hinaus in schwarz/weiß zugestellt habe.
50Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die von den Parteien überreichten Schriftsätze nebst Anlagen, auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung und auf die tatsächlichen Feststellungen in den nachfolgenden Entscheidungsgründen ergänzend Bezug genommen.
51Entscheidungsgründe
52Der zulässige Widerspruch ist unbegründet, so dass die einstweilige Verfügung der Kammer zu bestätigen ist, §§ 925 Abs. 2, 936 ZPO.
53Nachdem die Antragstellerin ihre Verfügungsanträge zu Ziffer II. und III. im hiesigen Verfahren zurückgenommen hat, ist nur noch über den gegen den Tenor zu Ziffer I. gerichteten Widerspruch zu entscheiden. Durch die teilweise Antragsrücknahme der Antragstellerin ist die Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022 insoweit gemäß § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO hinsichtlich ihres Tenors zu Ziffern II. und III. wirkungslos. Dies hat die Kammer im Tenor zu Ziffer I. (deklaratorisch) festgestellt.
54A.
55Die einstweilige Verfügung ist nicht wegen eines Verstoßes gegen die prozessualen Rechte der Antragsgegnerin aufzuheben.
56I.
57Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, dass ihr vor Erlass der einstweiligen Verfügung nicht ausreichend rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt worden sei, wäre ein solcher – unterstellter – Verstoß jedenfalls durch die Durchführung der mündlichen Verhandlung, die auf den Widerspruch der Antragsgegnerin gemäß § 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO erfolgte, zwischenzeitlich geheilt (vgl. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 8. September 2020, 2 BvQ 65/20, Rn. 3 m.w.N., zitiert nach juris; OLG Düsseldorf, Urteil v. 27.02.2019, I-15 U 45/18, Rn. 9 f. m.w.N., zitiert nach juris).
58Nachdem die Antragsgegnerin die Beschlussverfügung gem. §§ 936, 924 Abs. 1 ZPO mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs angegriffen hatte, erhielt sie Gelegenheit, in den vorbereitenden Schriftsätzen und in dem Termin zur mündlichen Verhandlung über den Widerspruch ihre sämtlichen tatsächlichen und rechtlichen Argumente vorzubringen. Das hiesige Urteil der Kammer ist folglich unter Wahrung des rechtlichen Gehörs der Antragsgegnerin ergangen. Insoweit ist zu beachten, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Verfügung stets ohne jedwede Bindung an die vorhergehende Entscheidung erfolgt und sich nicht etwa in der Klärung der Frage erschöpft, ob diese seinerzeit zu Recht erlassen worden war. Das Gericht hat auf den Widerspruch hin vielmehr zu prüfen, ob im allein maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung über den Widerspruch sämtliche Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegeben sind. Vorstehende Grundsätze hat die Kammer beachtet und der Antragsgegnerin mithin jedenfalls nachträglich rechtliches Gehör in vollem Umfang gewährt.
59II.
60Überdies wurde im Streitfall das grundrechtsgleiche Recht der Antragsgegnerin auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht verletzt.
61Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11.01.2022, 1 BvR 123/21, zitiert nach juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.09.2018, 1 BvR 1783/17, zitiert nach juris) verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm etwaig erteilte richterliche Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt insbesondere, wenn es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten oder dem Vorliegen der Dringlichkeit nach § 937 Abs. 2 ZPO abzugeben. Soweit Hinweise erteilt werden, ist der Gegenseite dies in Blick auf die Nutzung dieser Hinweise in diesem oder auch in anderen gegen den Antragsgegner gerichteten Verfahren auch im Falle der Ablehnung eines Antrags unverzüglich mitzuteilen. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes jedenfalls unvereinbar.
62Angesichts der Regelung in §§ 936, 922 Abs. 3 ZPO (nach welcher der Beschluss, durch den der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen wird, dem Gegner nicht mitzuteilen ist) und der fehlenden Vergleichbarkeit des Streitfalls mit den vom Bundesverfassungsgericht zu § 139 ZPO entschiedenen Fällen (insbesondere zu den Az. 1 BvR 1783/17 und 1 BvR 123/21) war die Antragsgegnerin vorliegend nach den Hinweisen der Kammer zur teilweise fehlenden Erfolgsaussicht der Eilanträge, die sich nur zugunsten der Antragsgegnerin ausgewirkt haben, nicht zwingend noch vor Erlass der mit einer ausführlichen Begründung versehenen Beschlussverfügung zu informieren. Denn hier ist kein weiterer oder neuer Vortrag der Antragstellerin auf die gerichtlichen Hinweise hin erfolgt, weil es gerade nicht darum ging, einen Antrag nachzubessern, wie dies indes in den o.g. vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen jeweils der Fall war. Die Antragstellerin hat auf die gerichtlichen Hinweise hin lediglich Teile ihres Antrags zurückgenommen. Überdies hat die Kammer ihre Hinweise ordnungsgemäß dokumentiert und aktenkundig gemacht, so dass sich – ebenfalls anders als jedenfalls in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall zum Aktenzeichen 1 BvR 1783/17 – nachvollziehbar aus den Akten ergab, wer wann wem gegenüber welchen Hinweis gegeben hat. Die Antragstellerin hat die Hinweise der Antragsgegnerin sodann nach Erlass der Beschlussverfügung rechtzeitig zugestellt (vgl. dazu unter C.). Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschten, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, wie dies in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen stattgefunden hatte, wurde hier ersichtlich nicht geführt.
63III.
64Die Antragstellerin hat sich nicht (prozessual) rechtsmissbräuchlich verhalten; insbesondere hat sie nicht gegen die ihr obliegende prozessuale Wahrheitspflicht gemäß § 138 Abs. 1 ZPO verstoßen. Die Wahrheitspflicht gemäß § 138 Abs. 1 ZPO ist die Pflicht zur subjektiven Wahrhaftigkeit im Sinne eines Verbotes der wissentlichen Falschaussage und erstreckt sich auf Behauptung und Bestreiten tatsächlicher Umstände (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 138, Rn. 2). Ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht ist die bewusste Behauptung unwahrer Tatsachen, ebenso das Verschweigen bekannter Tatsachen, deren Vortrag für die begehrte Entscheidung erforderlich ist. Die Wahrheitspflicht geht indes nicht so weit, den Gegner von der Darlegungslast zu befreien (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 138, Rn. 3 m.w.N.). Die Pflicht zum vollständigen Vortrag besagt, dass die Partei keine in ihre Darlegungslast fallenden, relevanten Tatsachen unterdrücken darf (was im Grunde schon aus der Wahrheitspflicht folgt). Die darlegungspflichtige Partei ist indes nicht verpflichtet, den streitigen Lebensvorgang von vornherein in allen Einzelheiten darzustellen (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 138, Rn. 7b m.w.N.).
65Wie die Antragsgegnerin selbst vorträgt, ging aus der mit der Antragschrift eingereichten Anlage AR 01 (License Agreement) bereits hervor, dass eine „PRO Version der M“ von YYY unter der Marke „L“ vertrieben wird. So erschließt sich aus der Präambel des License Agreements, dass es sich bei der „PRO Version der M“ ebenfalls um die gemäß dem Verfügungsgeschmacksmuster gefertigte „M“ handelt, welche auch von der Antragstellerin vertrieben wird, mit dem einzigen Unterschied, dass die L („PRO Version der M“) mittels einer Ladestation, in welche die Leuchte nach Gebrauch zurückgestellt wird, aufgeladen wird, wohingegen die „M“ der Antragstellerin mittels beiliegendem USB-Netzteil und einem Ladekabel aufgeladen wird. Überdies hat die Antragstellerin den aus ihrer Sicht, anhand einer Registerrecherche (vorgelegt als Anlage AR 07) ermittelten, am nächsten kommenden Formenschatz in der Antragsschrift dargelegt und glaubhaft gemacht. Mithin hat die Antragstellerin keine in ihre Darlegungslast fallenden, relevanten Tatsachen unterdrückt. Sie war nicht verpflichtet, zu Lizenzverhältnissen der Inhaberin des Verfügungsgeschmacksmusters mit weiteren Lizenznehmern vorzutragen. Vielmehr lag es aus Sicht der Antragstellerin zum Zeitpunkt der Antragseinreichung nachvollziehbar eher fern, zu der Leuchte L vorzutragen, da sie nach dem Wissen der Antragstellerin genau wie die von ihr vertriebene „M“ ein dem Verfügungsgeschmacksmuster entsprechendes Erzeugnis der Inhaberin und eben kein vorbekanntes Erzeugnis war und ist.
66Erst nachdem die Antragsgegnerin in der Widerspruchsbegründung – einhergehend mit ihrer diesbezüglichen Darlegungslast – die Vorbekanntheit der Leuchte L behauptet hat, war die Antragstellerin nach § 138 Abs. 1 ZPO verpflichtet, zur angeblichen Vorbekanntheit dieser Leuchte näher vorzutragen. Dieser Pflicht ist die Antragstellerin sodann nachgekommen, indem sie erklärt hat, dass die Leuchte L weder vor dem Jahr 2018 vertrieben noch veröffentlicht worden sei, wobei sie sich auf die eidesstattliche Versicherung des Geschäftsführers der YYY stützt, der ausschließt, dass die Lampe L vor 2018 im Handel erhältlich oder der Öffentlichkeit bekannt war (Anlage AR 11). Dafür, dass dieser Vortrag unwahr oder unvollständig ist, sind nach den untenstehenden Ausführungen (vgl. dazu unter B.I.1.c)aa)) keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die Unsicherheit im Hinblick auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Leuchte L ist offensichtlich allein durch die fehlerhaften Datumsangaben bei Google und nicht durch wahrheitswidrigen Vortrag der Antragstellerin entstanden.
67B.
68Die Antragstellerin hat einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht, §§ 935, 940, 936, 920 Abs. 2 ZPO.
69I.
70Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf Unterlassung gemäß Art. 19 Abs. 2, 10, 89 Abs. 1 a) Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung (im Folgenden: GGV) zusteht.
711.
72Von der Rechtsbeständigkeit des Verfügungsgeschmacksmusters hat die Kammer gemäß Art. 85 Abs. 1 GGV auszugehen. Die von der Antragsgegnerin hiergegen gemäß Art. 90 Abs. 2 GGV statthaft erhobene Einrede der Nichtigkeit des Verfügungsgeschmacksmusters bleibt ohne Erfolg.
73a)
74Das Verfügungsgeschmacksmuster hat folgende Merkmale:
75(1) Einen zylindrisch zulaufenden Lampenschirm und einen flachen, quadratischen Sockel, wobei
76a) die Länge der Diagonalen des quadratischen Sockels größer ist als der Durchmesser des unteren, breiteren Teils des Lampenschirms,
77während
78b) die Kantenlänge des Sockels kleiner ist als der Durchmesser des unteren, breiteren Teils des Lampenschirms.
79(2) Im Zentrum der (jedenfalls weitgehend) geschlossen ausgestalteten Oberseite des Lampenschirms befindet sich ein „An-/Aus-Knopf“-Symbol.
80(3) Der im Verhältnis zu seiner Breite flach gehaltene Sockel und der Lampenschirm werden durch einen schmalen, relativ langen Stiel verbunden, welcher ein Mehrfaches der Höhe des Lampenschirms beträgt.
81(4) Der Sockel bildet ein proportionales Gegengewicht zum Lampenschirm.
82(5) Eine glatte Oberflächenstruktur mit nahezu ununterbrochenen Übergängen zwischen den Bauelementen der Lampe.
83Der Gesamteindruck, den das Verfügungsgeschmacksmuster beim informierten Benutzer hervorruft, wird maßgeblich durch die Gestaltungsmerkmale (1), (2), (4) und (5) geprägt, da sie die grundlegende Formgebung betreffen. Dagegen bestimmt der relativ lange Stiel (Merkmal (3)) das Verfügungsgeschmacksmuster zwar mit, prägt es aber weniger entscheidend. Insgesamt handelt es sich um eine filigrane, schlichte und moderne Stehleuchte.
84b)
85Das Verfügungsgeschmacksmuster ist nicht wegen Widersprüchlichkeit in der Wiedergabe des Geschmacksmusters gemäß Art. 25 Abs. 1 lit. a) in Verbindung mit Art. 3 lit. a) GGV nichtig. Eine etwaige Widersprüchlichkeit führt nur dann zur Nichtigkeit des Geschmackmusters, wenn trotz der Auslegungsmöglichkeiten ein Widerspruch zwischen den verschiedenen Ansichten einer Geschmacksmusteranmeldung besteht (Ruhl in: Ruhl/Tollkmit, GGV, 3 Aufl. 2019, Art. 3, Rn. 149). Denn die Wiedergabe eines Geschmacksmusters ist der Auslegung zugänglich, wobei zu fragen ist, was der Anmelder nach außen erkennbar gewollt hat. Hierbei darf zugunsten des Anmelders unterstellt werden, dass er eine wirksame und nicht eine völlig sinnlose Anmeldung einreichen wollte (Ruhl in: Ruhl/Tollkmit, GGV, 3 Aufl. 2019, Art. 3, Rn. 149).
86Die hinterlegten Abbildungen des Verfügungsgeschmacksmusters zeigen ein und nicht etwa mehrere Erzeugnisse oder Ansichten von verschiedenen Erzeugnissen. Die Abbildungen 1/7 und 4/7 auf der einen und die übrigen Abbildungen des Verfügungsgeschmacksmusters auf der anderen Seite stehen im Einklang miteinander. Entgegen der Auslegung der Antragsgegnerin wollte der Anmelder offensichtlich keine Lampe ohne oder mit sehr kurzem Lampenstiel anmelden, was sich bereits eindeutig aus den Abbildungen 2/7, 3/7 und 5/7 bis 7/7 ergibt.
87Vielmehr handelt es sich bei den hinterlegten Zeichnungen nicht – wie die Antragsgegnerin für ihre Auslegung geltend macht – um Perspektivzeichnungen, die die Wahrnehmung des menschlichen Auges imitieren. Wie allgemein bekannt, erlaubt zwar eine perspektivische Darstellung, dreidimensionale Objekte auf einer zweidimensionalen Fläche so abzubilden, dass dennoch ein räumlicher Eindruck entsteht (vgl. dazu EUIPO, Dritte Beschwerdekammer, Entscheidung v. 01.02.2022, R 2060/2019-3, GRUR-RS 2022, 1909, Rn. 25 ff.). Gleichwohl ist eine solche Darstellung, die die Wahrnehmung des menschlichen Auges imitiert, bezüglich der absoluten Maße der einzelnen Eigenschaften des abgebildeten Objekts nicht aussagekräftig. So wird bei visueller Wahrnehmung ein näher gelegener Gegenstand, oder ein sich näher befindendes Merkmal als größer empfunden als ein Gegenstand oder Merkmal in weiterer Entfernung. Bei einer perspektivischen Darstellung wären durch den vom Lampenstab erzeugten Abstand zwischen Lampenschirm und Sockel in der Draufsicht und in der Sicht von unten die Größenverhältnisse verändert, so dass bspw. beim Blick mit kurzem Abstand von oben der Lampenschirm den Sockel vollständig überdeckte, obwohl der Durchmesser des unteren Teils des Lampenschirms kleiner ist als die Diagonale des Sockels. Wiederum würde der Sockel umso mehr zu sehen sein, je weiter sich der Fluchtpunkt der perspektivischen Darstellung – das menschliche Auge – von der Leuchte entfernte und mithin die Sichtstrahlen zunehmend parallel liefen. Die Zeichnungen vermöchten so die Größenverhältnisse – ohne Angabe des Fluchtpunktes – gerade nicht eindeutig wiederzugeben. Dies belegen auch die unterschiedlichen im hiesigen Verfahren eingereichten Fotografien von (schräg) oben, die jeweils die tatsächlichen Proportionen von Lampenschirm und Lampensockel nicht exakt wiederzugeben vermögen.
88Aus diesem Grunde wurden für das Verfügungsgeschmacksmuster technische Zeichnungen hinterlegt, die – wie dafür üblich – von netzparallelen Sichtstrahlen ausgehen und bei denen die tatsächlichen Maße in die technische Zeichnung übertragen werden, um die Größenverhältnisse eindeutig wiederzugeben. Dem entspricht für die Ansicht schräg von oben – hier Abbildung 7/7 – dann die Wahl einer isometrischen Darstellung, die eben keinen Fluchtpunkt hat und bei der der Maßstab unabhängig von der Entfernung des Objekts gleich bleibt. Bei der isometrischen Darstellung werden die Bauteilkanten (welche in Realität im 90°-Winkel zueinander stehen) in einem 30°-Winkel zur Horizontalen gezeichnet. Dabei wird keine der Kanten verkürzt gezeichnet, also ein Seitenverhältnis von 1:1 beibehalten. Genau diese Darstellung wurde für Abbildung 7/7 gewählt.
89
90 Grundprinzip der isometrischen Darstellung Abbildung 7/7
91Dies berücksichtigend handelt es sich um gänzlich konsistente Abbildungen wie sie bei technischen Zeichnungen üblicherweise erstellt werden. Eine Nichtigkeit wegen Widersprüchlichkeit scheidet mithin aus.
92c)
93Das Verfügungsgeschmacksmuster ist zudem nicht deshalb nichtig, weil ihm vorbekannter Formenschatz entgegenstünde.
94Ein Geschmacksmuster gilt als neu, wenn der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht worden ist, wobei zwei Geschmacksmuster als identisch gelten, wenn sich ihre Merkmale nur in unwesentlichen Elementen unterscheiden, Art. 5 GGV. Ein Geschmacksmuster besitzt Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Betrachter hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein vorbekanntes anderes Geschmacksmuster bei diesem Betrachter hervorruft, Art. 6 GGV.
95Für die Ermittlung der Eigenart ist die Unterschiedlichkeit der Muster das maßgebliche Kriterium. Abzustellen ist auch insoweit auf das Verständnis des informierten Benutzers. Ob das Verfügungsgeschmacksmuster dabei über die erforderliche Eigenart verfügt, ist durch einen Einzelvergleich mit bereits vorhandenen Mustern zu ermitteln (vgl. vgl. BGH, BGH, Urteil v. 28.01.2016, I ZR 40/14, Rn. 21 – Armbanduhr, zitiert nach juris; BGH, Urt. v. 22.04.2010, Az. I ZR 89/08, Rn. 33 – Verlängerte Limousinen). Für die Bejahung der Eigenart eines Geschmacksmusters muss sich der Gesamteindruck, den dieses beim informierten Benutzer hervorruft, nicht von dem Gesamteindruck, den eine Kombination einzelner Elemente von mehreren älteren Geschmacksmustern hervorruft, sondern von dem Gesamteindruck, den ein oder mehrere ältere Geschmacksmuster für sich genommen hervorrufen, unterscheiden (EuGH, GRUR 2014, 774 Rn. 35 – KMF/Dunnes; BGH, Urt. v. 24.01.2019, Az. I ZR 164/17, Rn. 22 – Meda Gate).
96Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze weist das Verfügungsgeschmacksmuster Neuheit und Eigenart auf.
97aa)
98Die Vorbekanntheit der Leuchte L von YYY ist von der Antragsgegnerin nicht glaubhaft gemacht.
99Da das einstweilige Verfügungsverfahren durch den Widerspruch der Antragsgegnerin ins zweiseitige Verfahren übergegangen ist, gelten die allgemeinen Darlegungs- und Glaubhaftmachungsregeln wie im Klageverfahren. Danach liegt die Darlegungs- und Beweislast bei demjenigen, der die fehlende Rechtsgültigkeit behauptet, mithin hier bei der Antragsgegnerin. Dies gilt sowohl für die Offenbarung der Leuchte L als auch für den Zeitpunkt der Offenbarung (vgl. Ruhl in: Ruhl/Tollkmit, GGV, 3 Aufl. 2019, Art. 7, Rn. 47).
100Zwar behauptet die Antragsgegnerin, die Leuchte L von YYY sei bereits ab Mitte April 2016 u.a. über den Online-Shop laredoute.fr zum Verkauf angeboten und veröffentlicht worden. Zur Glaubhaftmachung legt sie in Anlage AG 2 i neun Screenshots der Google-Suchmaschine als Nachweise dafür vor, dass die Leuchte L deutlich vor dem Anmeldedatum des Verfügungsgeschmacksmusters der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Der Antragsgegnerin ist zuzugeben, dass in der Google-Suche tatsächlich Datumsangaben aus dem Jahr 2016 in Bezug auf die jeweiligen Webseiten, auf denen die Leuchte heute unstreitig angeboten wird, angezeigt werden, denen durchaus eine gewisse Indizwirkung im Hinblick auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung zukommen mag. Die Antragstellerin bestreitet indes unter Vorlage eines Artikels betreffend die Fehleranfälligkeit der Daten in Suchergebnissen von Google (Anlage AR 10) sowie zweier eidesstattlichen Versicherungen (Anlagen AR 09 und AR 11), dass die von Google generierten Datumsangaben in den eingereichten Screenshots zutreffend sind. Auf die generelle Fehleranfälligkeit der Datumsangaben der Google-Suchmaschine weist Google, wie von der Antragstellerin vorgetragen, im Übrigen selber hin (vgl. https://developers.google.com/search/blog/2019/03/help-google-search-know-best-date-for?hl=de). Für die Unrichtigkeit der Datumsangaben spricht im Übrigen auch, dass eines der von der Antragsgegnerin vorgelegten Suchergebnisse sogar auf den 21.01.2015 verweist (vgl. S. 31 der Anlage AG 2i), wohingegen selbst nach dem Vortrag der Antragsgegnerin die Leuchte L von YYY erstmals im April 2016 angeboten worden sein soll. Auch die Anlagen AR 24 bis 26 legen nahe, dass die Webseite L.com, auf der die Leuchte heute ebenfalls unstreitig angeboten wird, erst im Jahr 2019 kreiert wurde bzw. die Wort-/Bildmarke L erst im Januar 2020 beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet wurde, was gegen eine Vorbekanntheit der Leuchte L spricht. Dass diese Unterlagen unrichtig sind und die Website bereits seit 2016 besteht, vermag die Antragsgegnerin demgegenüber allein mit ihrer Anlage AG 7 nicht glaubhaft zu machen. Überdies hat der Geschäftsführer der YYY eidesstattlich versichert, dass es ausgeschlossen sei, dass die Lampe L von YYY vor 2018 im Handel erhältlich oder der Öffentlichkeit bekannt gewesen sei. Vorher sei die Lampe auch nicht an andere Händler vertrieben worden. Die Kammer hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Sofern die Antragsgegnerin vorträgt, dass der (von ihr bestrittene) Vertriebsbeginn im Jahr 2018 keine Aussagekraft darüber habe, ab wann das Lampenmodell erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei, ist das zwar richtig. Indes obliegt eben ihr und nicht der Antragstellerin die diesbezügliche Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast, der sie allein durch Einreichung der Screenshots und der Anlage AG 7 nicht hinreichend nachgekommen ist. Insoweit folgt schließlich auch nichts anderes aus der von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidung des EuG (EuG, Urt. v. 20.10.2021, T-823/19, Rn. 59 und 60). Denn im Unterschied zum dort entschiedenen Fall – in dem die dortige Beklagte überdies weitere Beweise, die die Offenbarung zu dem von ihr behaupteten Datum belegten, angeführt hatte – hat die Antragstellerin die Glaubhaftigkeit der Datumsangaben der Google-Suche im Streitfall nicht nur ganz allgemein in Frage gestellt. Vielmehr hat sie konkret – unter Anführung verschiedener Dokumente und eidesstattlicher Versicherungen – dargelegt und glaubhaft gemacht, weshalb sie die Datumsangaben für unzutreffend hält.
101Nach alledem hält die Kammer die Vorbekanntheit der Leuchte L von YYY nicht für hinreichend wahrscheinlich, § 294 ZPO.
102bb)
103Die weiteren von der Antragsgegnerin in das Verfahren eingeführten Entgegenhaltungen erwecken im Rahmen des vorzunehmenden Einzelvergleichs (vgl. BGH, BGH, Urteil v. 28.01.2016, I ZR 40/14, Rn. 21 – Armbanduhr, zitiert nach juris; BGH, Urt. v. 22.04.2010, Az. I ZR 89/08, Rn. 33 – Verlängerte Limousinen) mit dem Verfügungsgeschmacksmuster jeweils einen anderen Gesamteindruck.
104i)
105Entgegenhaltung AG 2 „Ikea 2008“
106
107Die Vorbekanntheit dieser Entgegenhaltung zugunsten der Antragsgegnerin unterstellt, übernimmt das Verfügungsgeschmacksmuster zwar die Grundform dieser Leuchte. Es beabstandet sich aber durch den proportional zum Stiel und Sockel kürzeren Leuchtenschirm und einen längeren Stiel. Zudem springt der untere Teil des Sockels beim Verfügungsgeschmacksmuster nicht deutlich zurück, vielmehr besteht der Sockel aus einem Quader mit quadratischer Grundfläche. Überdies ist bei der Entgegenhaltung kein An-/Aus-Schalter am oberen Abschluss des Lampenschirms erkennbar. Insgesamt wirkt das Verfügungsgeschmacksmuster deutlich filigraner und moderner als die Entgegenhaltung von Ikea.
108ii)
109Entgegenhaltung AG 3 „FLOS“
110
111Auch von dieser Entgegenhaltung AG 3 übernimmt das Verfügungsgeschmacksmuster die Grundform. Das Verfügungsgeschmacksmuster unterscheidet sich indes dadurch, dass sein Sockel größer und etwas höher ist als der der Entgegenhaltung. Dadurch stellt der Sockel des Verfügungsgeschmacksmusters ein proportionales Gegengewicht zum Lampenschirm dar, wohingegen bei der Entgegenhaltung ein Übergewicht im oberen Teil der Lampe liegt. Zudem ist auch bei dieser Entgegenhaltung der für das Verfügungsgeschmacksmuster charakteristische An-/Aus-Schalter mangels Abbildung der Oberseite nicht feststellbar. Insgesamt wirkt das Verfügungsgeschmacksmuster deutlich ausgewogener und ruhiger als die Entgegenhaltung.
112iii)
113Entgegenhaltung AG 4 „eGGM Nr. 691340-0005“
114
115Im Vergleich zu der Entgegenhaltung AG 4 weist das Verfügungsgeschmacksmuster einen schmaleren und höheren Lampenschirm auf. Der Lampenstiel wirkt beim Verfügungsgeschmacksmuster nicht so „aufgesteckt“ wirkt wie bei der Entgegenhaltung, sondern geht weicher in den Sockel über. Zudem ist der Sockel im Verhältnis zum Lampenschirm beim Verfügungsgeschmacksmuster größer als bei der Entgegenhaltung und begründet so ein proportionales Gegengewicht, während auch bei dieser Entgegenhaltung ein Übergewicht im oberen Teil der Lampe liegt. Überdies setzt sich das Verfügungsgeschmacksmuster auch von dieser Entgegenhaltung durch den charakteristischen An-/Aus-Schalter am Lampenschirm ab. Das Verfügungsgeschmacksmuster wirkt „wie aus einem Guss“, wohingegen die Entgegenhaltung einen unruhigeren Eindruck macht.
116iv)
117Mit dem aus Sicht der Kammer nächstkommenden Formenschatz, dem europäischen Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 000679030-0003, hat sich die Kammer bereits in ihrer Beschlussverfügung vom 08.09.2022 auseinandergesetzt. Auf ihre diesbezüglichen Ausführungen auf S. 9 bis 10 der Beschlussverfügung (Bl. 42 bis 43 GA) nimmt die Kammer an dieser Stelle vollumfänglich Bezug.
118Eine Nichtigkeit wegen fehlender Neuheit und Eigenart scheidet nach alledem aus.
1192.
120Die angegriffene Leuchte verletzt das Verfügungsgeschmacksmuster, weil sie bei einem informierten Benutzer denselben Gesamteindruck erweckt.
121a)
122Die Verletzungsprüfung nach Art. 10 Abs. 1 GGV erfordert, dass der Schutzumfang des Geschmacksmusters bestimmt sowie sein Gesamteindruck und derjenige des angegriffenen Musters ermittelt und verglichen werden (vgl. BGH, Urt. v. 07.04.2011, I ZR 56/09, Rn. 34 – ICE). Bei der Beurteilung des Schutzumfanges der Geschmacksmuster ist der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung seines Geschmacksmusters zu berücksichtigen, Art. 10 Abs. 2 GGV. Zwischen dem Gestaltungsspielraum des Entwerfers und dem Schutzumfang des Musters besteht dabei eine Wechselwirkung. Eine hohe Musterdichte und ein kleiner Gestaltungsspielraum des Entwerfers können zu einem engen Schutzumfang des Musters mit der Folge führen, dass bereits geringe Gestaltungsunterschiede beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck hervorrufen, während umgekehrt eine geringe Musterdichte und damit ein großer Gestaltungsspielraum des Entwerfers einen weiten Schutzumfang zur Folge haben können, so dass selbst größere Gestaltungsunterschiede beim informierten Benutzer keinen unterschiedlichen Gesamteindruck erwecken (vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2012, I ZR 102/1, Rn. 31 m.w.N. – Kinderwagen II). Darüber hinaus wird der Schutzumfang der Geschmacksmuster auch durch ihren Abstand vom vorbekannten Formenschatz bestimmt. Je größer der Abstand der Geschmacksmuster zum vorbekannten Formenschatz ist, desto größer ist auch deren Schutzumfang (vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2012, I ZR 102/1, Rn. 32 – Kinderwagen II).
123Dies berücksichtigend ist im Streitfall insbesondere aufgrund der hohen Musterdichte und des eher geringen Abstands zum nächstkommenden Formenschatz von einem eher engen Schutzbereich des Verfügungsgeschmacksmusters auszugehen.
124b)
125Aber auch unter Zugrundelegung eines engen Schutzbereichs erzeugt die angegriffene Leuchte denselben Gesamteindruck wie das Verfügungs-geschmacksmusters.
126Bei der Prüfung, ob das angegriffene Muster beim informierten Benutzer den gleichen Gesamteindruck wie das Geschmacksmuster erweckt, sind sowohl die Übereinstimmungen als auch die Unterschiede der Muster zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urt. v. 12.07.2012, I ZR 102/1, Rn. 30 – Kinderwagen II). Dabei ist eine Gewichtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Merkmalen danach vorzunehmen, ob sie aus der Sicht des informierten Benutzers für den Gesamteindruck von vorrangiger Bedeutung sind oder in den Hintergrund treten (vgl. BGH, Urt. v. 24.01.2019, I ZR 164/17, Rn. 31 – Meda Gate; BGH, Urt. v. 28.01.2016, I ZR 40/14, Rn. 35 – Armbanduhr). Insoweit sind sämtliche Merkmale, und nicht nur die Merkmale, aus denen sich die Eigenart des Verfügungsgeschmacksmusters ergibt, in die Prüfung einzubeziehen (vgl. Ruhl, in: Ruhl/Tolkmitt, 3. Aufl. 2019, Art. 10 GGV, Rn. 44). Denn für die Bestimmung des Schutzumfangs eines Geschmacksmusters ist es grundsätzlich unerheblich, woraus sich dessen Eigenart im Einzelnen ergibt; der Schutzumfang hängt nicht vom Grad der Eigenart des Geschmacksmusters ab (vgl. BGH, Urt. v. 19.05.2010, I ZR 71/08, Rn. 11 ff. – Untersetzer).
127Dies berücksichtigend gilt Folgendes:
128Bei der angegriffenen Ausführungsform handelt es sich um eine identische Nachahmung des Verfügungsgeschmacksmusters, wie die nachfolgende exemplarische Gegenüberstellung von Verfügungsgeschmackmuster und angegriffener Leuchte verdeutlicht:
129
130Die von der Antragsgegnerin behaupteten Unterschiede bestehen nicht.
131Sowohl beim Verfügungsgeschmacksmuster als auch bei der angegriffenen Leuchte überragt der Lampenschirm lediglich die Seiten des quadratischen Sockels (Merkmal (1 b)), während die Diagonale des Sockels größer ist als der Durchmesser des unteren, breiteren Teil des Lampenschirms (Merkmal (1a)). Die von der Antragsgegnerin angeführten Trennlinien am Übergang von Lampenstabs zum Lampensockel in der Darstellung des Verfügungsgeschmacksmusters, welche bei der angegriffenen Ausführungsform fehlten, sind zeichnerisch erforderlich, um die Form der Verbindung des Lampensockels mit dem Lampenfuß darzustellen. Insbesondere zeigen sie keine Absätze, sondern allenfalls sehr schwach ausgeprägte Fugen. Vielmehr ist das Verfügungsgeschmacksmuster wie auch die angegriffene Ausführungsform von fließenden Übergängen zwischen den Bauelementen der Lampe geprägt (Merkmal (5)). Auch die Proportionen des Sockels der Verletzungsform entsprechen denen des Verfügungsgeschmacksmusters. Soweit die Antragsgegnerin einen „dicker und eher kompakt wirkenden Lampenfuß“ bei der angegriffenen Leuchte behauptet, blendet sie den Ausschnitt einer Fotografie aus der Antragsschrift ein, auf dem infolge der schlechten Auflösung der Sockel und der von ihm geworfene Schatten verschwimmen. Tatsächlich ist der Sockel aber im Verhältnis zu seiner Breite ebenso flach gehalten und entspricht in seinen Proportionen dem Verfügungsgeschmacksmuster. Soweit die Antragsgegnerin sich schließlich auf unterschiedliche Farb- und Licht- Kontraste und eine uneinheitliche Farbgebung im Hinblick auf die angegriffene Ausführungsform beruft, verfängt dies ebenfalls nicht. Denn das mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen ohne jegliche Kontraste eingetragene Verfügungsgeschmacksmuster beschreibt allein die Gestalt des Erzeugnisses. Durch die Abbildung von Schwarz-Weiß-Zeichnungen erlangt der Anmelder durch eine einzige Anmeldung einen weiten Design-Schutz für die Form eines Gegenstands gänzlich unabhängig von der Farbgebung (vgl. BGH, Urteil v. 20.12.2018, I ZB 26/18, Rn. 22 – Sportbrille, zitiert nach juris). Für die Frage der Verletzung kommt es mithin auf Farben, Kontraste und Oberflächengestaltung der angegriffenen Leuchte nicht an. Denn der Schutzumfang erstreckt sich vorliegend ohne weiteres auf alle Geschmacksmuster, die in ihrer Form denselben Gesamteindruck erwecken wie das Verfügungsgeschmacksmuster (vgl. dazu auch Ruhl in: Ruhl/Tolkmitt, 3. Aufl. 2019, GGV, Art. 3, Rn. 140).
132Schließlich besteht selbst der einzige in der Beschlussverfügung der Kammer – anhand der zum damaligen Zeitpunkt eingereichten Fotografien – zunächst festgestellte Unterschied, dass der Lampenschirm der angegriffenen Ausführungsform den Sockel etwas weitergehender überdecke als dies beim Verfügungsgeschmacksmuster der Fall sei (vgl. S. 11 der Beschlussverfügung), nicht, was die Kammer indes erst nach Übermittlung des angegriffenen Erzeugnisses selbst (als Anlage AR 23 nur für das Gericht) einige Tage vor der mündlichen Verhandlung festzustellen vermochte.
133Nach alledem weist das angegriffene Erzeugnis identische Übereinstimmungen in allen Merkmalen und dadurch denselben filigranen, schlichten und modernen Gesamteindruck wie das Verfügungsgeschmacksmuster auf.
1343.
135Durch das Angebot der Leuchte und die Lieferung nach Deutschland hat die Antragsgegnerin das Verfügungsgeschmacksmuster benutzt.
1364.
137Auch liegt die erforderliche Wiederholungsgefahr vor, da die Antragsgegnerin keine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben hat.
1385.
139Die Ordnungsmittelandrohung hat ihre Grundlage in Art. 88 Abs. 3 GGV i. V. m. § 890 ZPO.
140II.
141Schließlich ist auch der gemäß §§ 935, 940 ZPO erforderliche Verfügungsgrund gegeben.
142Wie in der Beschlussverfügung ausgeführt, hat die Antragstellerin durch ihr Verhalten deutlich gemacht, dass ihr die Sache eilig ist. Sie hat durch eidesstattliche Versicherung ihres Geschäftsführers vom 05.09.2022 (Anlage AR 02) glaubhaft gemacht, erst durch den Testkauf am 16.08.2022 von der konkreten angegriffenen Ausführungsform erfahren zu haben. So habe sie zunächst nach Rücksprache mit der Inhaberin Grund zu der Annahme gehabt, dass die Antragsgegnerin die angegriffenen Ausführungsformen – trotz zwischenzeitlich abgelaufener Lizenz – über einen Hersteller in China bezieht. Sie führte zur Verifizierung dieses Vorwurfs und zur Ermittlung, ob wirklich die vom Verfügungsgeschmacksmuster geschützten Lampen trotz Beendigung der Lizenzbeziehung wieder / weiter verkauft werden, einen Testkauf der angegriffenen Ausführungsform durch. Mit Schreiben vom 18.08.2022 mahnte die Antragstellerin die Antragsgegnerin mit Frist bis zum 26.08.2022 erfolglos wegen Verletzung des Verfügungsgeschmacksmusters ab und reichte am 05.09.2022 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung bei der Kammer ein.
143Der Verfügungsgrund ergibt sich für Unterlassungsverfügungen überdies grundsätzlich daraus, dass nach eingetretener Schutzrechtsverletzung – wie hier – weitere Verletzungen zu befürchten sind (vgl. Ruhl in: Ruhl/Tolkmitt, 3. Aufl. 2019, GGV, Art. 88, Rn. 33 m.w.N.). Damit droht zumindest nach begangener Verletzung stets ein Rechtsverlust (§ 935 ZPO) und damit auch ein wesentlicher Nachteil (§ 940 ZPO). Der Antragstellerin ist es nicht zuzumuten, weitere Verletzungen bis zum Erlass eines Urteils in Hauptsache hinzunehmen.
144Schließlich ist auch kein zögerliches Verhalten, das die Eilbedürftigkeit in Frage stellen könnte, darin zu sehen, dass sie den Vortrag zum Vertrieb durch YYY nicht schon bei Antragstellung gehalten hat. Vielmehr hat die Antragstellerin trotz vorheriger Abmahnung den aus ihrer Sicht nächstkommenden Formenschatz vorgelegt (Anlage AR 07) und ihrer Pflicht zum wahrheitsgemäßen und vollständigen Vortrag (§ 138 Abs. 1 ZPO) genügt (vgl. dazu ausführlich bereits unter A.III.). Sie hat dadurch gezeigt, dass ihr die Sache eilbedürftig ist.
145C.
146Schließlich ist auch die einmonatige Vollziehungsfrist der §§ 929 Abs. 2 S. 1, 936 ZPO gewahrt, die auch gilt, wenn die Vollziehung der einstweiligen Verfügung, wie hier, im EU-Ausland (§ 183 Abs. 1 S.1 Nr. 1ZPO, Art. 14 EuZustVo) erfolgten soll (vgl. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 929, Rn. 3 und 21b).
147Die Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022 wurde den anwaltlichen Vertretern der Antragstellerin am 12.09.2022 zugestellt. Die Vollziehungsfrist endete daher mit Ablauf des 12.10.2022. Bedarf der deutsche Titel, wie hier, der Vollstreckung im Ausland, genügt die Antragstellung auf Auslandszustellung als Vollziehung nach § 929 Abs. 2 S. 1 ZPO (vgl. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 929, Rn. 21b; Voß, in: Cepl/Voß, Prozesskommentar zum Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Aufl. 2022, § 929 ZPO Rn. 16 m.w.N.), jedenfalls wenn die Zustellung „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO erfolgt (Berneke/Schüttpelz, Die einstweilige Verfügung in Wettbewerbssachen, 4. Aufl. 2019, Rn. 576). Im Streitfall haben die Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 21.09.2022 – mithin innerhalb der Vollziehungsfrist – die Auslandszustellung bei der Kammer beantragt. Dafür haben sie bei der Kammer eine einfache Abschrift der Beschlussverfügung der Kammer vom 08.09.2022, des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 05.09.2022, der Anlage AR 02, der Mitteilung der Kammer vom 06.09.2022, des Telefonvermerks der Kammer vom 07.09.2022 und des Schriftsatzes der Antragstellerin vom 07.09.2022 nebst beglaubigter Übersetzung aller Dokumente mit farbigen Abbildungen eingereicht. Diese Dokumente wurden der Antragsgegnerin am 03.10.2022 – mithin ebenfalls innerhalb der Vollziehungsfrist – in Frankreich zugestellt (vgl. dazu Dokumente der Sendungsverfolgung Bl. 200 bis 205 GA).
148Zwar folgt ein Zustellungsmangel daraus, dass der Antragsgegnerin entgegen §§ 317 Abs. 1 Satz 1, 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO lediglich eine einfache Abschrift der Beschlussverfügung mit schwarz-weißen Abbildungen zugestellt worden ist. Dieser Zustellungsmangel ist aber gemäß § 189 ZPO geheilt worden. Nach dieser Vorschrift gilt ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
149Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der Mangel der unterbliebenen Zustellung einer beglaubigten Abschrift einer Klageschrift durch die von der Geschäftsstelle des Gerichts veranlasste Übermittlung einer (mit der Originalurkunde übereinstimmenden) einfachen Abschrift dieses Schriftstücks geheilt (vgl. BGH, Urteil v. 21.02.2019, III ZR 115/18, Rn. 13 m.w.N., zitiert nach juris). Gleiches gilt bei der Zustellung lediglich einer einfachen statt einer beglaubigten Abschrift einer Nachweisurkunde im Sinne von § 750 Abs. 2 ZPO (vgl. BGH, Urteil v. 21.02.2019, III ZR 115/18, Rn. 13 m.w.N., zitiert nach juris). § 189 ZPO ist im Einklang mit der Zielsetzung des Gesetzgebers grundsätzlich weit auszulegen. Er hat den Sinn, die förmlichen Zustellungsvorschriften nicht zum Selbstzweck erstarren zu lassen, sondern die Zustellung auch dann als bewirkt anzusehen, wenn der Zustellungszweck anderweitig, nämlich durch tatsächlichen Zugang, erreicht wird. Der Zweck der Zustellung ist es, dem Adressaten angemessene Gelegenheit zu verschaffen, von einem Schriftstück Kenntnis zu nehmen, und den Zeitpunkt der Bekanntgabe zu dokumentieren (vgl. BGH, Urteil v. 21.02.2019, III ZR 115/18, Rn. 13 m.w.N., zitiert nach juris). Ist die Gelegenheit zur Kenntnisnahme für den Zustellungsadressaten gewährleistet und steht der tatsächliche Zugang des betreffenden Schriftstücks bei ihm fest, bedarf es daher besonderer Gründe, die Zustellungswirkung entgegen dem Wortlaut des § 189 ZPO nicht eintreten zu lassen (vgl. BGH, Urteil v. 21.02.2019, III ZR 115/18, Rn. 13 m.w.N., zitiert nach juris).
150Richtigerweise wird auch dann, wenn einer Partei entgegen §§ 317 Abs. 1 Satz 1, 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO statt einer beglaubigten Abschrift lediglich eine einfache Abschrift einer Beschlussverfügung zugestellt wird, der darin liegende Zustellungsmangel nach § 189 ZPO geheilt, wenn – wie hier – keine Zweifel an der Authentizität und Amtlichkeit der Abschrift bestehen (vgl. dazu BGH, Urteil v. 21.02.2019, III ZR 115/18, Rn. 14, zitiert nach juris). Im Streitfall bestanden an der Authentizität und Amtlichkeit der zugestellten Beschlussverfügung in einfacher Abschrift für die Antragsgegnerin keine Zweifel. Denn der Antragsgegnerin ist die Beschlussverfügung der Kammer auch in französischer Sprache mit farbigen Abbildungen und mit einem Vermerk der Übersetzerin übermittelt worden, dass es sich um eine beglaubigte Übersetzung handele. Überdies hatte die Antragstellerin der Antragsgegnerin bereits am 12.09.2022 informatorisch per E-Mail die Beschlussverfügung mitsamt maschineller Übersetzung ins Englische und ins Französische übersandt. Dadurch hat die Antragstellerin ihren Vollziehungswillen in Bezug auf den im hiesigen Verfahren allein noch streitigen Unterlassungsanspruch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und für die Antragsgegnerin war zweifelsfrei erkennbar, auf welches ihrer Erzeugnisse sich der Unterlassungstenor der Beschlussverfügung bezog; Gegenteiliges hat die Antragsgegnerin im Übrigen auch nicht vorgetragen.
151D.
152Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Eines Ausspruchs über die vorläufige Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, da sich die Vollstreckbarkeit eines Urteils, mit dem eine einstweilige Verfügung bestätigt wird, bereits aus der Natur des auf sofortige Vollziehung ausgerichteten einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. §§ 936, 929 ZPO) ergibt.
153Streitwert:
154Bis zum 20.12.2022: 100.000,00 Euro;
155danach: bis 95.000,00 Euro.