OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 25.062024, Az. 16 W 16/22
§ 1004 Abs 1 S 2 BGB, § 823 Abs 1 BGB, Art 2 Abs 1 GG, Art 1 Abs 1 GG, § 890 ZPO
Das OLG Frankfurt a.M. hat entschieden, dass ein Untersagungstenor, der auf ausgewählte Verletzungsformen Bezug nimmt, auch die Untersagung kerngleicher Äußerungen umfassen kann. Allerdings gilt dies nicht, wenn bereits im Erkenntnisverfahren eine Äußerung als kerngleich gerügt wurde und sodann bewusst nicht als Verletzungsform in den Urteilstenor aufgenommen wurde. Zum Volltext der Entscheidung:
Oberlandesgericht Frankfurt a.M.
Beschluss
…
Die sofortige Beschwerde gegen den Ordnungsmittelantrag der Gläubigerin vom 9.9.2021 zurückweisenden Beschluss des Landgerichts Frankfurt a.M. vom 21.02.2022, Az. 2-03 O 306/19 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Gläubigerin zu tragen.
Gründe
I.
Mit ihrer sofortigen Beschwerde wendet sich Gläubigerin gegen die Zurückweisung eines Ordnungsmittelantrags wegen Verstoßes der Schuldnerin gegen eine ihr rechtskräftig auferlegte äußerungsrechtliche Unterlassungsverpflichtung.
1. Die Schuldnerin wurde durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Frankfurt a.M. vom 30.4.2020 – 2-03 O -306/19 – (Bl. 331 dA) dazu verurteilt, es bei Meidung u.a. eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes zu unterlassen, in der Bundesrepublik Deutschland
a) wörtlich oder sinngemäß die Behauptung aufzustellen und/oder aufstellen zu lassen und/oder zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen, dass es eine sexuelle oder lesbische Beziehung zwischen der deutschen Aufseherin in den Konzentrationslagern Neuengamme, Tiefstack und Bergen-Belsen, Vorname1 Nachname1 und der am XX.XX.2010 verstorbenen Mutter der Gläubigerin, Frau Vorname2 Nachname2, einer Gefangenen in den Konzentrationslagern Neuengamme, Tiefstack und Bergen-Belsen, gegeben habe, wie geschehen in Anlagen K3, K4 (dort auf S. 8, links unten) und K5 (Bl. 36 ff. dA), und/oder
b) den unabgekürzten Nachnamen der am XX.XX.2010 verstorbenen Mutter der Gläubigerin, Frau Vorname2 Nachname2, in Zusammenhang mit Berichterstattungen über eine angebliche lesbische oder sexuelle Beziehung mit Frau Vorname1 Nachname1 zu verwenden und/oder verwenden zu lassen – erlaubt sei: „Vorname2 Nachname2″ -, wie geschehen in Anlagen K3, K4 (dort auf S. 8, links unten) und K5 (Bl. 36 ff. dA).
2. Nach Zustellung des Titels veröffentlichte die Schuldnerin am 15.7.2020 in der Zeitschrift „Zeitschrift1“ (Vol. 39, No. 1, pp. 112-133) unter der Überschrift „Titel1“ einen englischsprachigen Aufsatz, in dem sie über „Vorname1 Nachname1, eine lesbische Lageraufseherin, und Vorname3 Nachname3, eine Gefangene, die ein Verhältnis mit Nachname1 hatte, um sich und ihre Mutter zu retten“, berichtete (Bl. 713 ff. dA). Darüber hinaus veröffentlichte die Schuldnerin auf Deutsch die aktualisierte Version eines bereits 2018 von ihr unter dem Titel „Titel2“ im Jahrbuch „Jahrbuch1“ erschienenen – im Erkenntnisverfahren als Anlage B 13 (Bl. 219 dA) vorgelegten – Aufsatzes, in dem die Mutter der Gläubigerin statt mit „Vorname3 Nachname3“ nun mit „Vorname4 Nachname4“ bezeichnet wurde oder auch mit „Vorname4 Nachname5“, ihrem tatsächlichen Namen, den sie nach ihrer Heirat angenommen hatte.
3. Den von der Gläubigerin daraufhin durch Schriftsatz vom 9.9.2021 (Bl. 711 dA) gestellten Antrag, gegen die Schuldnerin ein Ordnungsgeld im Umfang von 5.000 Euro zu verhängen, wies das Landgericht durch angegriffenen Beschluss vom 21.2.2022 – 2-03 O 306/19 – (Bl. 956 dA) zurück, da ein (kerngleicher) Verstoß gegen die auferlegte Untersagungsverpflichtung nicht zu erkennen sei.
a) Der Text des Aufsatzes „Titel1“ nenne weder den Namen der Mutter der Gläubigerin, noch würden Bildnisse verwendet, die im Tenor des Titels genannt seien. Zwar verweise die Schuldnerin in ihren Fußnoten auf Stellungnahmen der Frau Nachname1 und enthielten in Bezug genommene Quellen den Namen der Mutter der Gläubigerin. Unabhängig von der Frage, ob die Mutter der Gläubigerin aufgrund des Erfordernisses, die in Bezug genommene Quelle selbst aufzufinden und zu lesen, überhaupt noch erkennbar sei, stelle die von der Schuldnerin gewählte Form jedenfalls aber einen deutlich reduzierten Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Mutter der Gläubigerin dar, so dass diese Handlung vom Tenor des Urteils nicht mehr umfasst sei.
b) Auch die aktualisierte Version von „Titel2“, die die Namen „Vorname4 Nachname4“ und „Vorname4 Nachname5“ verwende, lasse keine kerngleichen Verstöße erkennen. Unter Einbeziehung des Tatbestands und der Entscheidungsgründe des Urteils sei dessen Tenor dahin auszulegen, dass er den Aufsatz „Titel2“ – auch in dessen aktualisierter Fassung – nicht umfasse. Insoweit habe das Urteil auf S. 14 f. bei der Abwägung diesen als Anlage B 13 vorgelegten Aufsatz explizit herausgenommen. Denn es habe ausgeführt, dass in das unter dem postmortalen Persönlichkeitsschutz stehende Lebensbild der Mutter der Gläubigerin durch Namensnennung in jenen Veröffentlichungen erheblich eingegriffen werde, die nicht die wissenschaftliche Veröffentlichung gemäß Anlage B 13 beinhalteten. Die maßgeblichen Stellen – insbesondere auch die Nennung des Nachnamens „Nachname5“ – seien aber bereits in der Version enthalten gewesen, die als Anlage B 13 Gegenstand des Verfahrens gewesen sei.
4. Gegen diesen Beschluss – ihren Prozessbevollmächtigten zugestellt am 1.3.2022 (Bl. 964 dA) – hat die Gläubigerin am 9.3.2022 (Bl. 966 dA) sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie ihren Antrag uneingeschränkt weiterverfolgt. Alle Textpassagen seien ohne Zweifel dahingehend zu verstehen, dass die Mutter der Gläubigerin mit Frau Vorname1 Nachname1 eine gleichgeschlechtliche Beziehung gehabt habe (Bl. 969 ff. dA). Einem kerngleichen Eingriff stehe auch nicht entgegen, dass die Schuldnerin in der angegriffenen Veröffentlichung nicht den richtigen Namen, sondern ein Pseudonym verwende. Denn Ziff. 1. a) des Tenors habe der Schuldnerin ihre Unterlassungsverpflichtung unabhängig von einer namentlichen Nennung der Mutter der Gläubigerin auferlegt (Bl. 978 f. dA).
5. Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen (Bl. 981 dA). Ein kerngleicher Verstoß liege nicht vor. Soweit die Gläubigerin schon nur die Ausführungen der Kammer zu dem Aufsatz „Titel1“ angreife, übersehe sie, dass der Tenor zu 1. a) des Urteils auf die konkreten Verletzungshandlungen gemäß Anlagen K 3, K 4 und K 5 Bezug genommen habe. Insoweit sei der Gesamtkontext der hier angegriffenen Äußerung ein anderer, da die Einbettung einer Äußerung in einen wissenschaftlichen Aufsatz eine andere Abwägung erfordere. Vor diesem Hintergrund könne hierin nicht ohne Weiteres ein kerngleicher Verstoß gesehen werden; eine neue Abwägung sei im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren nicht möglich.
II.
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Dabei kann die Frage, ob und in welchem Umfang die im Wettbewerbs-, Urheber- und Markenrecht geltenden „Kerntheorie“ – wonach Ansprüche auf Unterlassung über die konkrete Verletzungshandlung hinaus auch für Handlungen gegeben sein können, in denen das Charakteristische der Verletzungshandlung zum Ausdruck kommt – auf das Recht der Wortberichterstattung übertragbar ist, ungeachtet ihrer bislang fehlenden höchstrichterlichen Klärung (vgl. BGH, Beschl. v. 26.9.2023 – VI ZB 79/21 -, Rn. 19; Urt. v. 4.12.2018 – VI ZR 128/18 -, Rn. 19; zur Erfassung sinngemäß geäußerter Mitteilungen hingegen BGH, Urt. v. 24.7.2018 – VI ZR 330/17 -, Rn. 44; zur Ablehnung eines Verbots „kerngleicher“ Bildberichterstattungen allerdings BGH, Urt. v. 6.10.2009 – VI ZR 314/08 -, Rn. 7) offenbleiben, auch wenn ein solche Weiterentwicklung der zivilrechtlichen Dogmatik unter Anlegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2024 – 1 BvR 2279/23 -, Rn. 5) im Hinblick auf die damit einhergehende Beschränkung der Meinungsfreiheit nicht zu beanstanden wäre (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.12.2006 – 1 BvR 1200/04 -, Rn. 20; v. 9.7.1997 – 1 BvR 730/97 -, Rn. 10; zum Lauterkeitsrecht zuletzt BVerfG, Beschl. v. 18.9.2023 – 1 BvR 1728/23 -, Rn. 15; zur Erstreckung von Untersagungsverfügungen gegenüber einem Host-Anbieter auf Informationen, deren Inhalt zwar leicht unterschiedlich formuliert ist, aber im Wesentlichen die gleiche Aussage vermittelt, EuGH, Urt. v. 3.10.2019, Glawischnig-Piesczek, C-18/18, EU:C:2019:821, Rn. 41; zur Übertragung dieser Rechtsprechung auf Wort-Bild-Kombinationen im Internet [Meme], die ein Fehlzitat beinhalten, vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 25.1.2024 – 16 U 65/22 -, Rn. 43 ff. [Revision zugelassen und anhängig unter VI ZR 64/24]).
Wie das Landgericht zutreffend ausführt, beschränkt sich der dem Ordnungsmittelantrag zugrundeliegende Untersagungstenor auf Verletzungsformen wie geschehen in Anlagen K 3 bis K 5, während der hier als aktualisierte Version angegriffene, bereits als Anlage B 13 in das Verfahren eingeführte Aufsatz sowohl im Tenor (nach Bezeichnung der Anlage) wie in den Entscheidungsgründen (nach seinem Inhalt, als wissenschaftliche Veröffentlichung) von der Untersagung ausgenommen wurde. Ob ein beanstandetes Verhalten von einem gerichtlichem Unterlassungsgebot erfasst wird, hat das für die Zwangsvollstreckung nach § 890 ZPO zuständige Prozessgericht aber allein durch eine Auslegung des Vollstreckungstitels zu beurteilen, die vom Tenor der zu vollstreckenden Entscheidung auszugehen und erforderlichenfalls die Entscheidungsgründe sowie die Antrags- oder Klagebegründung heranzuziehen hat (vgl. BGH, Beschl. v. 26.9.2023 – VI ZB 79/21 -, Rn. 14). Daher wären die in diesem Aufsatz enthaltenen Äußerungen selbst dann nicht vom Untersagungstenor erfasst, wenn sie unter Anwendung der „Kerntheorie“ als kerngleiche Verletzungsform oder im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als „sinngemäß“ wiederholende Mitteilungen zu betrachten wären.
Was für den bewusst vom Untersagungstenor ausgenommenen Aufsatz „Titel2“ von vornherein gilt, trifft ebenso für den nachfolgend erschienenen Beitrag „Titel1” zu, da dieser gleichermaßen eine wissenschaftliche Abhandlung beinhaltet, wie sie der ausgeurteilte Untersagungstenor nicht umfasst. Zielt der Antrag der Gläubigerin angesichts dessen aber nicht auf Vollstreckung, sondern auf eigenständige Untersagung ab, scheidet eine hierauf bezogene Abwägung – unbeschadet der Grenzen einer etwaig entgegenstehenden Rechtskraft – im Zwangsvollstreckungsverfahren aus.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 891 Satz 3, § 97 Abs. 1 ZPO.