OLG Stuttgart: Keine Widerlegung der Dringlichkeitsvermutung, bei acht Wochen des Zuwartens / 2024

veröffentlicht am 25. September 2024

OLG Stuttgart, Urteil vom 01.08.2024, Az. 2 Ukl 2/24
§ 5 UKlaG, § 12 Abs. 1 UWG

Das OLG Stuttgart hat darauf hingewiesen, dass die Vermutung der Dringlichkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht widerlegt ist, wenn der Verfügungskläger den Verfügungsantrag rund sechseinhalb Wochen nach Kenntniserlangung bei Gericht einbringt. Dabei hatte der Verfügungskläger die Stellungnahmefrist zur Abmahnung auf Bitten des Verfügungsbeklagten um eine kurze Spanne verlängert. Darin und ebenso in der danach kurzfristig (über die Osterfeiertage) erfolgten Rückfrage auf das Schweigen des Verfügungsbeklagten liege ein aus objektiver Sicht nachvollziehbares Bemühen um eine außergerichtliche Sicherung des Unterlassungsbegehrens. Auch in der Zusammenschau mit der sich bis zur Antragstellung anschließenden Zeitspanne von elf Tagen hält sich dieses Verhalten noch im Rahmen dessen, was eine auf schnelle Befriedigung zielende Partei für zweckmäßig ansehen kann und erlaubt daher nicht den Vorwurf von Nachlässigkeit oder mangelndem Beschleunigungswillen. Dass der Verfügungskläger die Zwischenzeit nicht genutzt habe, Kontaktdaten des Verfügungsbeklagten aus dem Internet zu ermitteln und stattdessen eine amtliche Auskunft eingeholt hat, sei ebenfalls nicht dringlichkeitsschädlich. Der Verfügungskläger habe sich nicht auf aus dem Internet entnommene Kontaktdaten verlassen müssen. Die Dringlichkeitsvermutung sei selbst dann nicht widerlegt, wenn man die Kenntnis des vom Verfügungskläger zur Verstoßermittlung losgeschickten Zeugen dem Verfügungskläger zurechnen wollte, da sich der Verfügungskläger insgesamt noch weniger als acht Wochen Zeit gelassen hätte, seine Rechte gerichtlich geltend zu machen. Zum Volltext der Entscheidung:

Oberlandesgericht Stuttgart

Urteil

I. Der Verfügungsbeklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr Außenwerbung für Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter zu betreiben, wenn dies geschieht wie in der diesem Urteil beigeschlossenen Abmahnung des Verfügungsklägers vom 16.3.2024 (Zeichen des Verfügungsklägers: VRS-2024/011/AB (H-BW)) dargestellt.

II. Dem Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,- €, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, angedroht.

III. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Verfügungsbeklagte.

Streitwert: 7.500,00 EUR.

Tatbestand

Ohne Tatbestand gemäß § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO

Entscheidungsgründe

A

Der Verfügungskläger begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes als Verbraucherschutzverein vor dem Senat erstinstanzlich Unterlassung von Werbung für Tabakerzeugnisse an einer Tankstelle.

Zusammengefasst wendet sich der Verfügungskläger unter Bezugnahme auf eine konkrete Verletzungsform dagegen, dass der Verfügungsbeklagte an der von ihm betriebenen Tankstelle in F. über einen hinter der Außenscheibe angebrachten Bildschirm am 23. Februar 2024, um 16.31 Uhr, für zwei Zigarettenmarken warb und die Werbung außerhalb des Verkaufsraumes ungehindert sichtbar war. Die Parteien streiten im Kern über die rechtliche Zulässigkeit dieser Werbung nach dem TabakerzG, wobei der Verfügungsbeklagte seine Tankstelle als Betrieb des Tabakfachhandels ansieht, und darüber, ob die gesetzliche Dringlichkeitsvermutung entfallen ist.

Wegen des Sachvortrages und der Anträge der Parteien nimmt der Senat Bezug auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze sowie die Sitzungsniederschrift vom 18. Juli 2024.

B

Der Verfügungsantrag ist zulässig (dazu I.) und begründet (dazu II.).

I.

Der Verfügungsantrag ist zulässig.

1.

Die allgemeinen Prozessvoraussetzungen für ein nach § 6 Abs. 1 UKlaG beim Oberlandesgericht erstinstanzlich zu führendes Verbandsklageverfahren (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 07. März 2024 – 6 UKl 1/24; Büscher, WRP 2024, 1 ff.) liegen vor. Insbesondere ist der Verfügungskläger antragsbefugt, und das neue Verbandsklageverfahren ermöglicht ihm auch ein Vorgehen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. OLG Köln, a.a.O.; OLG Düsseldorf, Urteil vom 08. Februar 2024 – 20 UKl 4/23, juris).
Randnummer8
Auch die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Stuttgart ist angesichts des Geschäftssitzes des Verfügungsbeklagten (Fellbach) zweifelsfrei gegeben.

2.

Die Dringlichkeitsvermutung aus § 5 UKlaG i.V.m. § 12 Abs. 1 UWG ist entgegen der Auffassung des Verfügungsbeklagten nicht widerlegt.

a)

Sie kann durch das eigene Verhalten des Verfügungsklägers widerlegt werden und entfällt insbesondere dann, wenn er mit der Rechtsverfolgung zu lange wartet oder sich im gerichtlichen Verfahren nicht so verhält, wie dies von einer auf möglichst schnelle Rechtsdurchsetzung bedachten Partei zu erwarten wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 01. Juli 1999 – I ZB 7/99, juris Rn. 10 f.).

Entscheidend für den Beginn der Beurteilung ist der Zeitpunkt, zu welchem dem Verfügungskläger die maßgeblichen Tatsachen bekannt geworden sind, aus denen sich objektiv ein von ihm geltend zu machender Unterlassungsanspruch ergab. Kannte er die Wettbewerbshandlung, so ist es unerheblich, ob er hieraus die zutreffenden rechtlichen Schlüsse gezogen hat (OLG Hamburg, Beschluss vom 12. Februar 2007 – 5 U 189/06, juris Rn. 18). Denn wird ihm eine Wettbewerbshandlung bekannt, so trifft ihn eine Obliegenheit in eigener (oder in der von ihm kraft Gesetzes vertretenen) Sache, sich über die Rechtslage Klarheit zu verschaffen und zu entscheiden, ob er gegen die ihm bekannte Wettbewerbshandlung vorgehen will. Unterlässt er diese rechtliche Aufklärung, schlägt sie fehl, oder sieht der Anspruchsberechtigte davon ab, die Unterlassung der konkreten Wettbewerbshandlung zu betreiben, obwohl er dies, aus welchem Rechtsgrund auch immer, könnte, so verliert er nach Ablauf der angemessenen Verfolgungsfrist verschuldensunabhängig die Dringlichkeit für ein Vorgehen gegen diese konkrete Wettbewerbshandlung (OLG Stuttgart, Urteil vom 06. August 2020 – 2 U 95/19, m.w.N.).

Abgesehen von Fällen der besonderen Dringlichkeit, wie sie beispielsweise bei Messe- oder Marktsachen häufig gegeben sein wird, ist es regelmäßig unschädlich, wenn zwischen der Kenntnisnahme vom Verstoß und der gerichtlichen Geltendmachung nicht mehr als ein Monat liegt. Übersteigt dieser Zeitraum acht Wochen, so ist die Dringlichkeitsvermutung hingegen regelmäßig widerlegt. Bei einem Zeitraum zwischen einem Monat und acht Wochen hängt die Widerlegung von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (s. statt vieler nur OLG Stuttgart, Urteil vom 12. Oktober 2017 – 2 U 162/16; vgl. auch OLG Karlsruhe, Urteil vom 23. September 2015 – 6 U 52/15, juris Rn. 72).

Schädlich sind insbesondere Zeitläufte bloßen Zuwartens, die nicht mehr mit einer beschleunigten Sachbearbeitung zum Zwecke der raschen Anspruchsdurchsetzung zu begründen sind (näher OLG Stuttgart, Urteil vom 06. August 2020 – 2 U 95/19, m.w.N.). Hingegen bleiben innerhalb dieses zeitlichen Rahmens Bemühungen des Anspruchstellers unschädlich, die aus der Sicht eines objektiven Dritten an dessen Stelle sinnvoll erscheinen, um einen Rechtsstreit zu vermeiden und den Anspruch außergerichtlich durchzusetzen; hierunter fallen insbesondere vom Abgemahnten erbetene kurze Fristverlängerungen zur Abgabe einer strafbewehrten Unterwerfungserklärung.

b)

An diesem Maßstab gemessen, ist die Dringlichkeitsvermutung hier nicht widerlegt.

aa)

Der Verfügungskläger hat nach eigenem Vortrag am 29. Februar 2024 von dem streitgegenständlichen Verstoß erfahren, eine frühere Kenntnis hat der Verfügungsbeklagte nicht vorgetragen. Da er für die Tatsachen darlegungs- und glaubhaftmachungsbelastet ist, welche die Dringlichkeitsvermutung entfallen ließen, hilft ihm sein Bestreiten des Verfügungsklägervortrags zur Kenntniserlangung ebenso nicht weiter wie der Vorwurf, der Verfügungskläger habe seinen Vortrag zur Kenntniserlangung nicht glaubhaft gemacht (vgl. zum Ganzen OLG Stuttgart, Urteil vom 08. Mai 2024 – 2 U 205/23).

bb)

Der Verfügungsantrag wurde am 14. April 2024 bei Gericht angebracht, rund sechseinhalb Wochen nach Kenntniserlangung. Unter den gegebenen Umständen, die der Verfügungskläger eingehend dargelegt hat und die unstreitig geblieben sind, liegt hierin jedoch keine Saumseligkeit. Vielmehr hat der Verfügungskläger die Sache zügig vorangetrieben, und die Einwände des Verfügungsbeklagten hiergegen verfangen nicht.

(1)

Die Stellungnahmefrist zur Abmahnung hat der Verfügungskläger auf Bitten des Verfügungsbeklagten um eine kurze Spanne verlängert. Darin und ebenso in der danach kurzfristig (über die Osterfeiertage) erfolgten Rückfrage auf das Schweigen des Verfügungsbeklagten liegt ein aus objektiver Sicht nachvollziehbares Bemühen um eine außergerichtliche Sicherung des Unterlassungsbegehrens. Auch in der Zusammenschau mit der sich bis zur Antragstellung anschließenden Zeitspanne vom 03. bis zum 14. April 2024 hält sich dieses Verhalten noch im Rahmen dessen, was eine auf schnelle Befriedigung zielende Partei für zweckmäßig ansehen kann und erlaubt daher nicht den Vorwurf von Nachlässigkeit oder mangelndem Beschleunigungswillen.

(2)

Dass der Verfügungskläger die Zwischenzeit nicht genutzt hat, Kontaktdaten des Verfügungsbeklagten aus dem Internet zu ermitteln und ihn über diese – wenige Tage früher als geschehen – abzumahnen, beseitigt die Dringlichkeitsvermutung in der Gesamtschau nicht. Es ist dem Verfügungskläger in dem zu beurteilenden zeitlichen Rahmen nicht vorzuwerfen, dass er sich auf aus dem Internet entnommene Kontaktdaten nicht verlassen wollte, um eine Abmahnung auszusprechen, sondern eine amtliche Auskunft eingeholt hat.

(3)

Im Übrigen gälte dasselbe selbst dann, wenn man die Kenntnis des vom Verfügungskläger zur Verstoßermittlung losgeschickten Zeugen schon mit Wirkung ab dem 23. Februar 2024 dem Verfügungskläger zurechnen wollte, wie vom Verfügungskläger vertreten. Selbst dann hätte sich der Verfügungskläger insgesamt noch weniger als acht Wochen Zeit gelassen, seine Rechte gerichtlich geltend zu machen.

II.

Der Verfügungsantrag ist begründet. Dem Verfügungskläger steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zu (dazu 1.), und der Einwand des Verfügungsbeklagten, die Sache eigne sich nicht für eine Entscheidung im einstweiligen verfügungsverfahren, geht fehl (dazu 2.).

1.

Dem aus §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 Nr. 1 UKlaG antragsberechtigten Verfügungskläger steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 20a Satz 1 i.V.m. § 2 Nr. 9 TabakerzG zu. Durch die streitgegenständliche, vom Verfügungsbeklagten durchgeführte (dazu a) als prozessrechtliche Einheit anzusehende Handlung (dazu b) hat der Verfügungsbeklagte Außenwerbung für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigaretten i.S.d. § 20a Abs. 1 Satz 1 TabakerzG i.V.m. § 2 Nr. 9 TabakerzG betrieben (dazu c) und dadurch gegen das verbraucherschützende Verbot aus § 20a Abs. 1 Satz 1 TabakerzG verstoßen. Denn der Ausnahmetatbestand des § 20a Satz 2 TabakerzG greift nicht zu Gunsten des Verfügungsbeklagten ein (dazu d). Obwohl sich die Werbemaßnahme auf Zigaretten beschränkte, erfasst der Unterlassungsanspruch als kerngleiche Handlungen auch Werbung für die anderen im Tenor Ziffer 1 genannten Tabakerzeugnisse.

a)

Die angegriffenen Display-Darstellungen des Verfügungsbeklagen sind unstreitig. Der Verfügungsbeklagte bestreitet zwar, dass die vorgelegten Lichtbilder seine Tankstelle zeigten, nicht aber, dass er in seiner Tankstelle eine elektronische Werbestele betreibt, wie vom Verfügungskläger vorgetragen, und dass auf dieser am 23. Februar 2024, um 16.31 Uhr, die vom Verfügungskläger behaupteten Werbetexte nebst -bildern von außerhalb des Gebäudes zu sehen waren. Das Bestreiten des Verfügungsbeklagten bezieht sich lediglich auf die Glaubhaftmachung. Zum eigentlichen Tatvorwurf schweigt der Verfügungsbeklagte. Dieser ist damit unstreitig (§ 138 ZPO) und braucht daher nicht glaubhaft gemacht zu werden, so dass die Einwände zu den hierzu vorgelegten Glaubhaftmachungsmitteln ins Leere gehen.

b)

Die angegriffenen Bildschirm-Anzeigen stellen prozessual einen einheitlichen Streitgegenstand dar. Hier hat der Verfügungskläger von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die konkrete Verletzungsform als Einheit anzugreifen und zur Begründung ihrer Rechtswidrigkeit kumulativ auf zwei in ihr enthaltene Werbedarstellungen für verschiedene Zigarettenmarken zurückzugreifen (vgl. BGHZ 194, 314, juris Rn. 19 ff. – Biomineralwasser), die vom Verfügungsbeklagten ausgestrahlt wurden. Bei natürlicher Betrachtung liegt eine einheitliche Handlung vor (vgl. zur Abgrenzung Hofmann, NJW 2019, 2126). Denn die Darstellungen auf dem Bildschirm wechselten – unstreitig – gemäß einer Voreinstellung (Programmierung) automatisch, so dass es keines erneuten Handelns des Verfügungsbeklagten mehr bedurfte, um von einer Darstellung zur anderen zu wechseln.

c)

Mit diesen Ausstrahlungen hat der Verfügungsbeklagte Außenwerbung für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigaretten i.S.d. § 20a Abs. 1 Satz 1 TabakerzG i.V.m. § 2 Nr. 9 TabakerzG betrieben.

aa)

Dass es sich bei diesen um kommerzielle Kommunikation mit dem Ziel handelt, den Verkauf eines Erzeugnisses zu fördern, also um Werbung i.S.d. § 2 Nr. 5 TabakerzG, steht zwischen den Parteien nicht im Streit.

bb)

Diese Werbung ist Außenwerbung i.S.d. § 2 Nr. 9 TabakerzG. Der Begriff „Außenwerbung“ umfasst in dieser Norm jede Werbung außerhalb geschlossener Räume. Während der Wortlaut insoweit keinen eindeutigen Aufschluss gibt (vgl. Boch, in: TabakerzG, 2. Online-Auflage, 2022, Rn. 11 zu § 2 TabakerzG), lassen Sinn und Zweck der Norm erkennen, dass dabei nicht auf den Ort abzustellen ist, an dem die Verlautbarung abgegeben wird, sondern auf den Ort, an dem die Werbung bestimmungsgemäß oder doch erwartbar wahrgenommen wird.

Der Zweck des Tabakwerbeverbotes besteht darin, den Konsumenten außerhalb von Ladenlokalen vor den Anreizen zu schützen, die von Tabakwerbung ausgehen und ihn anreizen sollen, Tabakprodukte zu erwerben und zu konsumieren. Für den Konsumanreiz spielt es keine Rolle, ob die Werbebotschaft innerhalb oder außerhalb eines Gebäudes produziert und abgesandt wird. Entscheidend für die Wirkung ist, ob sie in dem „geschützten“ Raum wahrgenommen wird.

Diese Konzeption zeigt sich auch in dem klarstellenden Hinweis, dass Schaufensterwerbung als Außenwerbung gilt. Auch sie wird innerhalb des Ladenlokals produziert, aber typischerweise von außen angesehen.

In dieselbe Richtung weisen die Gesetzgebungsmaterialien. In BT-Drs. 19/19495, S. 10 f. heißt es:

„Die Verbote der Außenwerbung und die weitergehende Einschränkung der Kinowerbung sowie ein Verbot der kostenlosen Abgabe in Kombination mit den bereits bestehenden Werbeverboten werden als wirksame Mittel eingeschätzt, um eine weitere Senkung der Raucherquote zu erreichen. Außenwerbung für Tabakerzeugnisse ist allgemein präsent“

und

„Im Hinblick auf das Verbot der Außenwerbung ist ferner der Jugendschutz als weiterer Rechtfertigungsgrund anzuführen, da sich Jugendliche dieser allgemein präsenten Werbeform nicht entziehen können“

und

„Dadurch werden die Werbemaßnahmen aus den besonders hochrangigen Gründen des Gesundheits- und Jugendschutzes so kanalisiert, dass von ihnen primär Personen erreicht werden, die sich ohnehin schon in einem einschlägigen Verkaufsumfeld mit Warenpräsentation und ggf. werbenden Verkaufsgesprächen befinden“.

Das Argument des Verfügungsbeklagten, wer die Werbung wahrnehme, befinde sich schon in dem Verkaufsumfeld, in dem der Gesetzgeber kein Werbeverbot habe verhängen wollen, überzeugt nicht. Wer sich noch außerhalb der Tankstellenräume befindet, wird in aller Regel noch nicht von Verkaufspersonal auf Tabakerzeugnisse angesprochen und hat auch noch keinen Bereich betreten, in dem es – ausschließlich oder primär – um Geschäfte mit Tabakwaren geht.

Stellte man hingegen auf den Ort der Mitteilungshandlung ab, so erschiene die Abgrenzung willkürlich. Es machte dann einen Unterschied, ob eine Werbung an der Innenseite einer Fensterfläche angebracht wäre oder auf der Außenfläche derselben Scheibe. Eine sachbezogene Differenzierung läge darin nicht.

Erfasst wird somit neben dem Einsatz von Werbemitteln außerhalb des Ladenlokals auch Werbung im Ladenlokal, wenn sie im Außenbereich wahrgenommen wird.

d)
Der Verfügungskläger hat durch seine streitgegenständliche Werbung gegen das, wie aus den vorstehenden Zitaten ersichtlich, dem Verbraucherschutz dienende Verbot aus § 20a Abs. 1 Satz 1 TabakerzG verstoßen. Denn der Ausnahmetatbestand des nachfolgenden Satz 2 greift nicht zu seinen Gunsten ein.

aa)
Nach Satz 2 dieser Norm gilt das Verbot des Betreibens von Außenwerbung nicht für Werbung an Außenflächen einschließlich dazugehöriger Fensterflächen von Geschäftsräumen des Fachhandels.

bb)
Nach der amtlichen Begründung (BT.-Drs. 19/19495) wird hier der einschlägige Fachhandel privilegiert, mithin der Fachhandel für Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter.

Diese Ausnahme soll das Werbeverbot ersichtlich vor dem Verdikt der Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG und gegen das Übermaßverbot schützen. Ein Verstoß gegen die grundrechtlichen Schutzschranken läge vor, wirkte das Werbeverbot gegenüber „klassischen“ Tabakwarenhändlern erdrosselnd. Für den Bestand dieses hergebrachten Berufszweiges wöge ein Werbeverbot weit schwerer als gegenüber Unternehmen mit einem gemischten Warensortiment. Es beeinträchtigte sie im Kernbereich ihrer wirtschaftlichen Betätigung, weil ihnen eine nach außen wirkende Werbung für ihr Warenangebot im Ergebnis unmöglich gemacht würde und sie damit weitgehend von Laufkundschaft abgeschnitten würden.

Vor diesem Hintergrund ist die Ausnahme zu verstehen und zu interpretieren.

cc)
Für den Fachhandel charakteristisch ist ein eher schmales, häufig sehr tiefes, in sich geschlossenes Branchen-Sortiment mit Beratung durch speziell geschulte Verkaufskräfte (Gabler Wirtschaftslexikon, Fachgeschäft). Damit fallen Händler, die (neben anderen Produkten) lediglich Zigaretten anbieten, nicht unter den Begriff des Fachhandels; also nicht Einzelhandelsgeschäfte mit einem gemischten Sortiment (OLG Köln, a.a.O.), namentlich nicht Lebensmittelgeschäfte und Tankstellen (Horst, in: recht. Die Zeitschrift für europäisches Lebensmittelrecht, 2020, 178; zustimmend zitiert von Boch, in: Tabakerzeugnisgesetz, 2. Online-Auflage, 2022, Rn. 5 zu § 20a TabakerzG). Dahinstehen kann, ob eine Ausschließlichkeit zu fordern ist, worüber die Parteien streiten oder ob traditionell mit dem Fachhandel für Tabakwaren einhergehende Geschäftsfelder wie insbesondere der Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften sowie Annahme und Verkauf von Lotteriescheinen die Zuordnung zum Fachhandel ausschließen.

dd)
Denn unabhängig davon erfüllt die Tankstelle des Verfügungsbeklagten die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes nicht.

(1)
Eine Tankstelle wird gemeinhin nicht als Fachhandelsgeschäft für Tabakerzeugnisse verstanden. Ihr primärer Zweck ist die Versorgung der Bevölkerung mit Fahrzeugtreibstoffen. Hinzugekommen sind im Laufe der Zeit der Verkauf von Reisebedarf (Getränken, Süßigkeiten etc.) und von Hilfsmitteln, die zum sicheren Betrieb eines Kraftfahrzeugs kurzfristig erforderlich sein können und mit denen sich der Autofahrer selbst weiterhelfen kann (z.B. Motorenöl). Dieser Zuschnitt erlaubt es Tankstellen, ihr Sortiment auch außerhalb der regulären, gesetzlich beschränkten Ladenöffnungszeiten zu verkaufen.

(2)
Der Verfügungsbeklagte, welcher die für den Ausnahmetatbestand erforderlichen Tatsachen vortragen und glaubhaft machen müsste, hat nichts vorgetragen, woraus sich ergäbe, dass in seiner Tankstelle eine Spezialisierung vorliegt, wie sie von einem Fachhandel zu erwarten wäre:
Randnummer47
In weiten Teilen bezieht sich sein Vortrag gar nicht auf seine Tankstelle, sondern ist branchenbezogen und allgemeiner Natur. Außerdem bleibt der Vortrag substanzlos.
Randnummer48
Lediglich zur Wandfläche, welche bei ihm Tabakwaren einnehmen, gibt er eine ungefähre Vorstellung. Auch insoweit lässt sich aber zum einen nicht erkennen, dass das Sortiment dem entspräche, was man in einem Fachhandelsgeschäft erwartete. Zum Verhältnis des Sortiments zu anderen Warengattungen (z.B. Getränken) fehlen aussagekräftige Angaben und folgerichtigerweise auch eine Glaubhaftmachung.
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Den Treibstoffabsatz blendet der Verfügungsbeklagte unter Verweis auf Pauschalvergütungen vollständig aus. Solche Vertragsgestaltungen ändern nichts daran, dass sich eine Tankstelle primär als Ort zur Treibstoffversorgung mit Nebenangeboten darstellt, die denen eines Gemischtsortimenters entsprechen, und somit nicht als Tabakwarenfachhandel angesehen werden können.

(3)
Auch eine besondere Qualifikation seines Personals in Tabakwaren zeigt der für die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes darlegungs- und glaubhaftmachungsbelastete Verfügungsbeklagte nicht auf.

2.
Ohne Erfolg wendet der Verfügungsbeklagte ein, eine Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei vorliegend ausgeschlossen, die Sache sei zu kompliziert, als dass sie im Verfügungsverfahren entschieden werden könnte, und die wirtschaftlichen Folgen eines Verbotes für den Verfügungsbeklagten stünden einer solchen Entscheidung entgegen.

a)

Die Grundentscheidung des Gesetzgebers (vgl. §§ 916, ff., 935 ff. ZPO, §§ 8, 12 f. UWG) geht dahin, dem Anspruchsberechtigten einen Weg zur einstweiligen Sicherung seiner Rechte zu eröffnen, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Diesen Weg hat der Gesetzgeber de lege lata auch dann nicht beschränkt, wenn die Rechtslage besonders kompliziert oder höchstrichterlich ungeklärt ist. Beides böte zudem keinen sachlichen Gesichtspunkt für eine Beschränkung des Rechtsschutzes. Denn eine höchstrichterliche Rechtsprechung bindet die Untergerichte schon wegen der richterlichen Unabhängigkeit und der Bindung der Richter allein an Recht und Gesetz nicht.

Dem Umstand, dass der einstweilige Rechtsschutz bei tatsächlich oder rechtlich komplizierten Sachen an seine Grenzen stoßen kann, trägt der Gesetzgeber dadurch Rechnung, dass im einstweiligen Rechtsschutz nur eine summarische Prüfung der Rechtslage auf der Grundlage des von den Parteien beizubringenden Tatsachenstoffes erfolgt, und die Tatsachenfeststellung durch das mindere Beweismaß aus § 294 ZPO erleichtert wird. Die daraus entstehenden strukturellen Nachteile für den Verfügungsbeklagten werden dadurch ausgeglichen, dass die Entscheidung im Verfügungsverfahren nicht in materielle Rechtskraft erwächst und jederzeit angegriffen werden kann (vgl. §§ 926, 927 ZPO).

b)

Dass hier ganz besondere Umstände des Einzelfalles vorlägen, welche dem Erlass einer einstweiligen Verfügung im Wege stünden, zeigt der Verfügungsbeklagte nicht auf. Insbesondere lässt sein Vortrag nicht ansatzweise erkennen, dass ihn das beantragte Verbot bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren in seiner wirtschaftlichen Existenz bedrohen könnte. Die Frage, ob ihm gegenüber eine verfassungskonforme, einschränkende Auslegung erforderlich sein könnte, stellt sich somit nicht.

C
Die Ordnungsmittelandrohung (§ 890 ZPO) ist antragsgemäß auszusprechen.

D
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung im Verfügungsverfahren ist aus sich heraus vorläufig vollstreckbar.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 GKG i.V.m. §§ 3 ff. ZPO, wobei der Senat berücksichtigt hat, dass der Verfügungskläger das Interesse aller Verbraucher vertritt, wohingegen andererseits der angegriffene Verstoß jeweils nur sehr kurz und örtlich sehr begrenzt zu sehen war und nur zu einer potentiellen Gefährdung führen konnte, aber selbst noch nicht zu einem Schaden für den Verbraucher.

Von daher erscheint der vom Verfügungskläger – mit nur indizieller Wirkung – angesetzte Wert von 10.000,- € für die Hauptsache angemessen, wovon im Verfügungsverfahren ein Abschlag von – wie üblich – 25 % anzusetzen ist.

Die Revision kann nicht zugelassen werden. Sie wäre unstatthaft (§ 542 Abs. 2 ZPO).

I