OLG Hamm: Hinweisbeschluss zur Anwendung von § 15 a RVG: Senat will BGH-Entscheidung abwarten

veröffentlicht am 25. Januar 2010

OLG Hamm, Beschluss vom 19.01.2010, Az. 1-25 W 16/10
§ 15 a RVG

Das OLG Hamm hat in diesem aktuellen, ausführlich begründeten Hinweisbeschluss seine Rechtsauffassung bestätigt, dass der neue § 15 a RVG nicht für Altfälle gilt. Das Gericht kann der von anderen Gerichten z.T. vertretenen Auffassung, dass der neue § 15 a RVG lediglich eine Klarstellungsfunktion besitze und deswegen auch auf vor der Neuregelung begonnene Fälle Anwendung finden müsse, nicht anschließen. Wir haben zu verschiedenen Entscheidungen bereits berichtet (Link: Entscheidungen). Mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Übergangsregelung für Altfälle führe die Auffassung, dass § 15 a auch für Altfälle gelte, möglicherweise zu verfassungsrechtlich bedenklichen Rückwirkungen. Um eine bloße Klarstellung der Anrechnungsvorschriften handele es sich nach ausdrücklicher Betonung des OLG Hamm gerade nicht, da der – objektiv auszulegende – Wortlaut ins Gegenteil verkehrt worden sei und damit eine Änderung vorliege. Da sich die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in diesem Punkt widerspreche, empfiehlt das OLG Hamm im konkreten Fall, eine Entscheidung des BGH abzuwarten, welche die Anwendbarkeit des § 15 a RVG auf Altfälle klärt. Die Entscheidung des II. Senats des BGH vom 02.09.2009 (Link: BGH) sah das OLG offensichtlich nicht als abschließend an.


Oberlandesgericht Hamm

Beschluss

I.
Der Senat weist auf Folgendes hin:

Der Senat ist mit den Oberlandesgerichten Celle (Beschluss vom 26.08.2009, 2 W 240/09) und Frankfurt (Beschluss vom 10:0R2009, 12 W 91/09), dem Kammergericht (Beschluss vom 13.08.2009,2 W 128/09) – zitiert jeweils nach juns­sowie dem 6. Familiensenat des OLG Hamm (Beschluss vom 22.06.2009, 6 WF 154/09) und andersals die Oberlandesgerichte Stuttgart (Beschluss vom 11.08.2009; 8 W 339/09) und Koblenz (Beschluss vom 1.9.2009, 14 W 553/09) sowie des 11. Zivilsenats des BGH (Beschluss vom 02.09.2009 (AZ: 11 28 35/07» der Auffassung, dass § 15a RVG wegen der Überleitungsvorschrift des § 60 Abs. 1 RVG auf das vorliegende Verfahren keine Anwendung findet, weil der Auftrag vor Inkrafttreten des § 15a RVG erteilt worden ist.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 RVG, der zumindest entsprechend anwendbar ist (1.), liegen vor (2.).

1.
§ 60 Abs. 1 RVG ist zumindest entsprechend anwendbar. Das am 1. September in Kraft getretene Gesetz zur Modemisierung von Verfahren im anwaltlichen und
notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30.07.2009 (8GB!. I. S. 2449), durch das § 15a RVG neu eingeführt worden ist, enthält keine Überleitungsvorschriften.

1.1.
Zweifel an der Anwendbarkeit des § 60 Abs. 1 RVG könnten deshalb bestehen, weil einmaldas RVG nur das Gebührenrechtsverhältnis zwischen Anwalt und Mandant regelt und es nur über § 91 ff. ZPO, insbesondere § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO zur Relevanz des RVG und dessen Änderung im Verhältnis zum unterliegenden Gegner kommt, um die es im vorliegenden Streit geht. Zum anderen könnte bezweifelt werden, ob es darum geht, „die Vergütung … zu berechnen … “ (§ 60 Abs. 1 S. 1 RVG), denn es geht im eigentlichen Sinne bei § 15a RVG nicht um die Berechnung der Vergütung, sondern um die Anrechnung verschiedener Gebühren aufeinander.

Dem ersten Argument ist allerdings schon entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber die hier maßgebliche Regelung in § 15a Abs. 2 RVGgetroffen und damit dem RVG und dessen § 60 Abs. 1 unterworfen hat und nicht etwa in § 91 ZPO. Zum anderen hat die Anrechnung eines Gebührentatbestandes immer auch Einfluss auf die Berechnung des Gebührentatbestandes, auf den angerechnet wird.

1.2.

Außerdem muss § 60 Abs. 1 RVG verfassungskonform (mit der Folge der Anwendbarkeit) ausgelegt werden. Ohne Übergangsvorschrift würde die Gesetzesänderung (dazu noch unter 2.) zu einer verfassungsrechtlich zumindest problematischen Rückwirkung führen. Auch bei einer grundsätzlich zulässigen unechten Rückwirkung kann die Güterabwägung ergeben, dass das Vertrauen des Bürgers auf die bestehende Rechtslage den Vorrang verdient. Dies ist dann der Fall, wenn die Rückwirkung sich für die Erreichung des Gemeinwohlzwecks als nicht verhältnismäßig erweist, also zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen des Betroffenen die Veränderungsgrunde des Gesetzgebers überwiegen (Herzog in Maunz-Dürig, Grundgesetz, 53. Auf!. 2009, Art. 20 GG Rn. 89, m. Nachw. aus der Rechtsprechung des BVerfG). Dass das Gemeinwohl eine Rückwirkung der in Frage stehenden Gesetzesänderung erfordert, erscheint sehr zweifelhaft.

1.3.
Wenn entgegen den vorherigen Ausführungen § 60 Abs. 1 RVG nicht unmittelbar anwendbar wäre, müsste die Vorschrift entsprechend angewendet werden.

Die Begründung zum genannten Gesetz, mit dem § 15a RVG eingeführt würde, verhält sich nicht über die Frage, warum der Gesetzgeber keine Übergangsvorschrift für Altfälle erlassen hat.

Es kann sein, dass er sie wegen § 60 Abs. 1 RVG nicht für erforderlich hielt.

Es könnte sein, dass der Gesetzgeber (unzutreffend, s. 2.) überhaupt nicht von einer Gesetzesänderung, sondern von einer KlarsteIlung ausging, die keiner Übergangsvorschrift bedürfe. Dafür könnte die Gesetzesbegründung sprechen. Dort (ßT-Drucks. 16/12717 S. 67 f.) heißt es sinngemäß, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Anrechnung von Gebührentatbeständen führe zu unbefriedigenden Ergebnissen, die den Absichten zuwiderlaufe, die der Gesetzgeber mit dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz verfolgt habe, mit der Regelung in § 15 a RVG solle der verlolgte Gesetzeszweck gewahrt werden.

Schließlich kann es sein,dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit einer Übergangsvorschrift nicht bedacht hat.

In allen Fällen läge eine ungewollte Gesetzeslücke vor, die sinnvoll nach den Ausführungen oben unter 1.1. und 1.2. nur durch eine analoge Anwendung des § 60 Abs. 1 RVG geschlossen werden könnte.

2.
Bei der Neueinführung des § 15a RVG handelt es sich um eine Gesetzesänderung iSd. § 60 Abs. 1 RVG. nicht um eine bloße KlarsteIlung, wie das OLG Stuttgart (a.a.O.) meint.

Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 W-RVG sieht nach altem und neuem Recht vor, dass eine vorgerichtlich entstandene Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr anzurechnen ist, wenn der Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit bereits vorgerichtlich tätig geworden ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift ist die gerichtliche Verfahrensgebühr zu mindern, nicht die vorgerichtliche Geschäftsgebühr, wovon insbesondere auch der BGH in ständiger Rechtsprechung ausgeht (BGH NJW 2007,2049,2050; u.a. bestätigt durch BGH NJW 2008,1323 ff.). Diese Vorschrift ist vom Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des BGH nicht geändert worden, worauf das OLG Celle (a.a.O.) zu Recht in diesem Zusammenhang hinweist.

§ 15a Abs. 1 RVG regelt abweichend von der (zuvor zwingenden) Vorschrift in Teil 3 Vorbemerkung 3 Abs. 4 W-RVG, dass z.B. der Anwalt sowohl Geschäfts- als auch Verfahrensgebühr grundsätzlich in voller Höhe verlangen kann, im Gesamtbetrag jedoch vermindert um den Anrechnungsbetrag. So kann er nach neuem Recht bei Anspruch auch auf die Geschäftsgebühr die volle Verfahrensgebühr geltend machen, während er nach altem Recht nur eine halbe Verfahrensgebühr geltend machen konnte. Wie dies als KlarsteIlung und nicht als Änderung der Gesetzeslage verstanden werden kann, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Dies lässt sich nur mit der verfehlten Auffassung begründen, dies sei schon nach altem Recht so gewesen.

Die am Wortlautorientierte Auslegung des BGH zum alten Recht war und ist zutreffend. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf die genannten Entscheidungen des BGH und auch des Kammergerichts (a.a.O.), das zutreffend darauf hinweist, dass es nicht auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers ankommt, sondern auf den im Gesetzeswortlaut objektivierten Willen. Hat der Gesetzgeber im Verfahren um die Einführung des RVG den Fehler gemacht, seinen (auch in der Begründung nicht geäußerten) Willen nicht nur nicht im Wortlaut zum Ausdruck zu bringen, sondern den Wortlaut im Gegensatz zu seinem Willen zu formulieren, kann er dies nicht dadurch beseitigen. dass er unter Berufung auf eine vermeintlich falsche Rechtsprechung ein Gesetz durch ein neues Gesetz „klarstellt“, sofern dies gewollt sein sollte.

II.
Angesichts der entgegenstehenden Entscheidung der Oberlandesgerichte Stuttgart und Koblenz muss der Senat im Fall einer Entscheidung in dieser und in zahlreichen anderen noch zur Entscheidung anstehenden Beschwerdesachen die Rechtsbeschwerde zulassen.

Durch die Entscheidung des 11. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs über die Anwendung des § 15 a RVG auf „Altfälle“ ist diese Rechtsfrage noch nicht abschließend geklärt. Sie stützt sich auf eine Beurteilung der Rechtslage vor Einführung des §15 a RVG, die von anderen Senaten des Bundesgerichtshofes nicht geteilt wird. Der X. Zivilsenat hat in seiner Entscheidung vom 29.09.2009 (Az. X ZB 1/09) zudem Zweifel an der Auffassung des II. Zivilsenats erkennen lassen.

Der Senat schlägt den Parteien vor, die Entscheidung zur Vermeidung überflüssiger Kosten bis zu einer Entscheidung des BGH auszusetzen. Es ist dem Senat zwar nicht bekannt, ob gegen eine der genannten OLG-Entscheidungen Rechtsbeschwerde eingelegt worden ist. Im Verzeichnis der beim BGH anhängigen Rechtsbeschwerden sind aber anhängige Rechtsbeschwerden zu finden, in denen es um die Anrechnung der Geschäflsgebühr geht. Insoweit wird sich der BGH, wenn er bei seiner Rechtsauffassung bleibt, aus Sicht des Senats auch mit den Auswirkungen der Gesetzesänderung zu befassen haben.

I