BGH, Urteil vom 10.10.2011, Az. AnwZ (Brfg) 7/10
§ 5 S.1 Hs. 1 FAO
Der BGH hat entschieden, dass bei der Prüfung eines Antrags auf Gewährung des Fachanwaltstitels im Rahmen der „persönlichen und weisungsfreien Bearbeitung“ der in der Fallliste aufgeführten Fälle auch solche Akten zu berücksichtigen sind, die vom Antragsteller zwar selbst bearbeitet wurden, ohne dass dieser aber die jeweilige Korrespondenz selbst unterschrieb („Ghostwriter-Fälle“). Auch solche Fremdbearbeitungen seien anzurechnen. Zum Volltext der Entscheidung:
Bundesgerichtshof
Urteil
in der verwaltungsrechtlichen Anwaltssache
…
wegen Gestattung des Führens der Fachanwaltsbezeichnung
…
Der Bundesgerichtshof, Senat für Anwaltssachen, hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Oktober 2011 durch … für Recht erkannt:
Unter Abänderung des Urteils des 1. Senats des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen vom 13.04.2010 wird der Beschluss der Beklagten vom 21.09.2009 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger das Führen der Bezeichnung „Fachanwalt für Familienrecht“ zu gestatten.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 12.500,00 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Der seit dem 8. Juni 2004 zur Rechtsanwaltschaft zugelassene Kläger betreibt in K. eine eigene Kanzlei. Außerdem ist er in freier Mitarbeit für die Rechtsanwälte Dr. W. und Ku. tätig. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2008 beantragte er bei der Beklagten, ihm die Führung der Bezeichnung „Fachanwalt für Familienrecht“ zu gestatten. Eine anwaltliche Tätigkeit (§ 3 FAO), besondere theoretische Kenntnisse (§ 4 Abs. 1 Satz 1, 2, § 12 FAO) sowie die Erfüllung der Fortbildungspflicht (§ 4 Abs. 2, § 15 FAO) wies er nach. Zum Nachweis der Voraussetzungen des § 5 Satz 1 Buchst. e FAO legte er drei Falllisten mit insgesamt 121 Fällen vor, von denen 88 gerichtliche und 33 außergerichtliche waren. Fallliste I betraf Mandate des Rechtsanwalts Dr. W. , Fallliste II Mandate des Rechtsanwalts Ku. , Fallliste III eigene Mandate. Einer Aufforderung der Beklagten entsprechend legte der Kläger anwaltliche Versicherungen der genannten Rechtsanwälte vor, in denen unter Bezugnahme auf die Falllisten I bzw. II jeweils zum Ausdruck gebracht war, dass der Kläger die dort aufgeführten Fälle persönlich und weisungsfrei bearbeitet habe.
Mit Beschluss vom 21. September 2009 hat die Beklagte den Antrag des Klägers abgelehnt. Der Kläger habe hinsichtlich der Falllisten I und II nicht nachgewiesen, die geforderten Fälle persönlich und weisungsfrei bearbeitet zu haben. Eine Durchsicht von 28 Akten aus diesen Falllisten habe ergeben, dass er keinerlei Verantwortung gegenüber dem Mandanten und auch nicht gegenüber dem jeweiligen Kanzleiinhaber übernommen habe. Eine eigene Entscheidungsbefugnis für wesentliche Teile der Fallbearbeitung habe ihm nicht zugestanden.
Die im Hauptantrag – unter Aufhebung des bezeichneten Beschlusses vom 21. September 2009 – auf Gestattung des Führens der Fachanwalts-bezeichnung gerichtete Klage hat der Anwaltsgerichtshof mit Urteil vom 13. April 2010 abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Es könne offenbleiben, ob die Anforderungen an eine persönliche und weisungsfreie Bearbeitung gegeben seien; was dies bedeute, sei noch nicht abschließend geklärt. Jedenfalls habe der Kläger die Fälle nicht „als Rechtsanwalt“ bearbeitet. § 5 FAO gehe davon aus, dass nur ein (weisungsfreier eigenverantwortlich tätiger) Rechtsanwalt genügend Erfahrungen sammeln könne, um später als Fachanwalt kompetent auftreten zu können. Gemessen an diesen Anforderungen sei die Tätigkeit des Klägers zwar eine juristische, der auch die fachliche Durchdringung nicht abgesprochen werden solle; sie sei aber nicht die eines Rechtsanwalts, sondern die eines Sachbearbeiters gewesen, der im Hintergrund die Arbeit des verantwortlichen Rechtsanwalts nur vorbereite. Aus denselben Gründen seien auf eine neue Entscheidung der Beklagten zielende Hilfsanträge des Klägers unbegründet.
Mit Beschluss vom 16. Mai 2011 hat der Senat auf Antrag des Klägers die Berufung gegen das Urteil des Anwaltsgerichtshofs wegen ernstlicher Zweifel an dessen Richtigkeit zugelassen (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Mit seiner Berufung beantragt der Kläger, die Beklagte unter Aufhebung des Beschlusses vom 21. September 2009 zu verurteilen, dem Kläger auf dessen Antrag vom 1. Dezember 2008 die Führung der Bezeichnung „Fachanwalt für Familienrecht“ zu gestatten. Hilfsweise beantragt er, die Beklagte zu verurteilen, über seinen Antrag vom 1. Dezember 2008 mit der Maßgabe neu zu entscheiden, dass dieser nicht wegen fehlenden Nachweises der besonderen praktischen Erfahrungen im Sinne der §§ 5, 12 FAO abgelehnt wird, weiter hilfsweise, über seinen genannten Antrag neu zu entscheiden.
Unter Bezugnahme auf seinen bisherigen Vortrag und jeweils unter Beweisantritt macht der Kläger geltend, dass er keinesfalls in der Rolle eines bloßen Sachbearbeiters verharrt habe. Vielmehr habe er die für die beiden Rechtsanwälte aufgeführten Fälle – entsprechend deren anwaltlicher Versicherung – persönlich und weisungsfrei als Rechtsanwalt bearbeitet und dabei auch eine Vielzahl gerichtlicher Termine wahrgenommen sowie Mandantengespräche geführt.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die anwaltlichen Versicherungen seien unzureichend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg. Die Beklagte hat dem Kläger die Befugnis zum Führen der Fachanwaltsbezeichnung für Familienrecht zu Unrecht versagt. Der Kläger hat nachgewiesen, dass er über die in § 43c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. §§ 1, 2 Abs. 1 FAO geforderten besonderen theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen im Familienrecht verfügt. Demgemäß verletzt der Beschluss der Beklagten vom 21.09.2009 den Kläger in seinen Rechten. Im Hinblick darauf, dass jeder Anwalt, der die Voraussetzungen erfüllt, einen Anspruch auf die Erteilung der Erlaubnis hat (Senat, Beschluss vom 23.09.2002, AnwZ (B) 40/01, NJW 2003, 741, 742 m.w.N.), ist die Sache auch spruchreif im Sinne von § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1.
Den Nachweis besonderer theoretischer Kenntnisse (§ 4 Abs. 1 Satz 1, 2, § 12 BRAO) sowie der Erfüllung der Fortbildungspflicht (§ 4 Abs. 2, § 15 FAO) hat der Kläger erbracht. Er hat einen 120 Zeitstunden umfassenden Lehrgang durchlaufen und drei fünfstündige Leistungskontrollen erfolgreich absolviert sowie für das Jahr 2008 die erforderliche Zahl an Fortbildungsstunden belegt. Dies steht zwischen den Parteien außer Streit.
2.
Die durch den Kläger vorgelegten Falllisten genügen hinsichtlich Inhalt und Fallzahlen den formellen Anforderungen nach § 5 Satz 1 Buchst. e, § 6 Abs. 3 Satz 1 FAO. Auch darin besteht zwischen den Parteien Einigkeit.
3.
Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Anwaltsgerichtshofs ist indessen auch die in der Eigenschaft als Rechtsanwalt vorgenommene persönliche und weisungsfreie Bearbeitung (§ 5 Satz 1 Halbsatz 1 FAO) der in den Falllisten I und II aufgeführten Fälle hinreichend nachgewiesen.
a)
Eine „persönliche“ Bearbeitung von Fällen ist nach der Rechtsprechung des Senats gegeben, wenn sich der Rechtsanwalt – namentlich durch Anfertigung von Vermerken und Schriftsätzen oder die Teilnahme an Gerichts- und anderen Verhandlungen – selbst mit der Sache inhaltlich befasst hat; beschränkt sich seine Befassung dagegen auf ein Wirken im Hintergrund, liegt eine persönliche Bearbeitung nicht vor (vgl. Senat, Beschlüsse vom 04.11.2009, Az. AnwZ (B) 16/09, NJW 2010, 377, 379; vom 25.10.2006, AnwZ (B) 80/05, NJW 2007, 599; und vom 16.05.2011 in dieser Sache). Dieser durch den Anwaltsgerichtshof – allerdings unter dem Blickwinkel einer Tätigkeit „als Rechtsanwalt“ (dazu unten Buchst. b) – tragend herangezogene Grundsatz, wonach eine bloß untergeordnete Zuarbeit keine persönliche Mandatsbearbeitung darstellt, gilt auch für Angestelltenverhältnisse sowie die freie Mitarbeit bei Rechtsanwälten (Senat, Beschluss vom 16. Mai 2011 aaO; Hartung/Römermann/Scharmer, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl. 2008, § 5 FAO Rn. 250). Eine im genannten Sinne persönliche Bearbeitung hat der Rechtsanwalt in der Form des § 6 FAO nachzuweisen, soweit er nicht durch Verwendung eines eigenen Briefkopfs oder in ähnlicher Weise nach außen als Bearbeiter in Erscheinung tritt (Senat, Beschluss vom 04.11.2009, aaO).
Den erforderlichen Nachweis nicht nur untergeordneter, persönlicher Bearbeitung hat der Kläger erbracht. Er hat vorgetragen, jeweils die Handakten der Rechtsanwälte Dr. W. und Ku. zur selbstständigen Bearbeitung erhalten zu haben, woraufhin er Schriftsätze gefertigt, Mandantenbesprechungen durchgeführt und Gerichtstermine wahrgenommen habe. Schriftstücke seien, soweit er sie nicht in eigenem Namen oder in Vertretung unterzeichnet habe und ohne dass es bei der Vergabe von Diktatzeichen eine einheitliche Verfahrensweise gegeben habe, den ihn beauftragenden Rechtsanwälten zur Unterschrift vorgelegt worden, wobei etwaige Änderungen nicht ohne Rücksprache vorgenommen worden seien. Beide Rechtsanwälte haben die persönliche (und weisungsfreie) Bearbeitung der aufgeführten Fälle unter Bezugnahme auf die jeweils sie betreffende Fallliste anwaltlich versichert. Sie haben Umfang und Art der Tätigkeit des Klägers in während des Berufungsverfahrens vorgelegten weiteren anwaltlichen Versicherungen im Sinne des Klägervortrags konkretisiert. Mit den anwaltlichen Versicherungen ist den – weitgehend formalisierten (vgl. Senat, Beschluss vom 23. September 2002 – AnwZ (B) 40/01, NJW 2003, 741, 742 m.w.N.) – Anforderungen des § 6 Abs. 3 FAO nach der Rechtsprechung des Senats Genüge getan (vgl. Senat, Beschlüsse vom 4. November 2009 und vom 25. Oktober 2006, aaO).
Der erbrachte Nachweis wird durch die Ergebnisse der Durchsicht von ausgewählten Akten, die von der Beklagten sowie vom Anwaltsgerichtshof vorgenommen worden ist, nicht durchgreifend erschüttert. Dass danach Schriftsätze fast ausnahmslos von den mandatierten Rechtsanwälten unter deren Briefkopf unterzeichnet wurden, wobei sich überwiegend keine eindeutig auf die Urheberschaft des Klägers hinweisenden Diktatzeichen gefunden haben, steht der Annahme des Nachweises persönlicher Bearbeitung im Hinblick auf die vorgelegten anwaltlichen Versicherungen nicht grundsätzlich entgegen (s. auch AGH Hessen, BRAK-Mitt. 2009, 82, 84 f.). Die Annahme des Anwaltsgerichtshofs, die Tätigkeit des Klägers habe sich auf eine völlig untergeordnete „Zuarbeit“ beschränkt, steht ferner nicht mit den von ihm getroffenen Feststellungen in Einklang. Vor allem hat der Kläger auch danach vielfach Gerichtstermine wahrgenommen, nach den zwölf durch den Anwaltsgerichtshof überprüften Akten aus der Fallliste I sogar über den Klägervortrag hinaus „in der Mehrzahl“, nach den im angefochtenen Urteil zahlenmäßig nicht benannten Akten der Fallliste II „gelegentlich“.
b)
Desgleichen ist entsprechend deren anwaltlichen Versicherungen nachgewiesen, dass der Kläger die ihm von den Rechtsanwälten Dr. W. und Ku. überwiesenen Verfahren „weisungsfrei als Rechtsanwalt“ bearbeitet hat.
Die Auffassung des Anwaltsgerichtshofs, der Kläger habe im Rahmen seiner in freier Mitarbeit verrichteten Tätigkeit nicht gemäß § 5 Satz 1 Halbsatz 1 FAO „als Rechtsanwalt“ gehandelt, hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Das in der Vorschrift verwendete Merkmal anwaltlicher Tätigkeit dient, worauf der Senat im Zulassungsbeschluss vom 16. Mai 2011 bereits hingewiesen hat, der Abgrenzung zu Tätigkeiten, die der Rechtsanwalt in anderen Funktionen, insbesondere für nicht anwaltliche Arbeitgeber ausübt, wobei in der bisherigen Rechtsprechung den Hauptfall der Syndikusanwalt bildet (vgl. etwa Senat, Beschluss vom 4. November 2009, aaO m.w.N.; Hartung/Römermann/Scharmer, aaO § 5 FAO Rn. 253 ff.; Offermann-Burckart, Fachanwalt werden und bleiben, 2. Aufl. 2007, Rn. 507). Danach ist an anwaltlicher Tätigkeit grundsätzlich nicht zu zweifeln, wenn der zugelassene Rechtsanwalt, der in einem Angestelltenverhältnis zu einem Rechtsanwalt steht (vgl. Senat, Beschluss vom 6. März 2006 – AnwZ (B) 37/05, BGHZ 166, 299) oder für einen solchen in freier Mitarbeit tätig wird, Mandate bearbeitet, indem er – wie hier – Schriftsätze verfasst und Gerichtstermine wahrnimmt. Insbesondere erscheint nicht zweifelhaft, dass er dann bei seiner Tätigkeit nicht etwa maßgebend die Perspektive seines Auftraggebers, sondern, was den Rechtsanwaltsberuf prägt, die Perspektive des jeweiligen Mandanten einnimmt (vgl. Senat, aaO S. 304).
Unter welchen Voraussetzungen es bei im Angestelltenverhältnis oder in freier Mitarbeit tätigen Rechtsanwälten am Merkmal der „Weisungsfreiheit“ fehlen kann, muss der Senat nicht allgemein klären. Anlass zu Zweifeln würde beispielsweise dann bestehen, wenn der angestellte oder in freier Mitarbeit tätige Rechtsanwalt nach strikten Vorgaben sowie unter strikter Anleitung und Ergebniskontrolle zu arbeiten hätte, mithin ihm keinerlei eigener Entscheidungsspielraum zustünde (vgl. auch Offermann-Burckart in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl., § 5 FAO Rn. 20 m.w.N.). Davon ist jedoch vorliegend nicht auszugehen.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 194 Abs. 1 BRAO.
Vorinstanz:
AGH Hamm, Urteil vom 13.04.2010, Az. 1 AGH 76/09