BGH: Der Bundesgerichtshof kann Streitwert nachträglich reduzieren und damit Nichtzulassungsbeschwerde verwerfen

veröffentlicht am 21. Juni 2021

BGH, Beschluss vom 11.02.2021, AZ. I ZR 23/20
§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO

Der BGH hat entschieden, dass eine (erfolgreiche) Streitwertbeschwerde nach Abschluss der Berufungsinstanz vom BGH als Revisionsinstanz revidiert werden kann. Die Beklagte hatte sich erstmals nach Erlass des Berufungsurteils gegen die nach Anhörung beider Parteien vorgenommene Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht auf 17.500 EUR gewandt, ohne geltend zu machen, dass sie auf einen höheren Streitwert rechtfertigende Umstände schon in der Berufungsinstanz hingewiesen hätte. Parteivortrag zur Höhe von Streitwert und Beschwer, der erstmals nach Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung mit dem Ziel gehalten werde, die Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zu überschreiten, sei, so der Senat, ebenso zu behandeln wie (erstmaliger) Vortrag im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 25. Juni 2020, Az. I ZR 205/19, juris Rn. 12). Er könne bei der Bemessung der Beschwer durch die Revisionsinstanz grundsätzlich auch dann keine Berücksichtigung finden, wenn er vom Berufungsgericht zum Anlass genommen worden sei (was hier der Fall war), eine nachträgliche Heraufsetzung des Streitwerts vorzunehmen. Zum Volltext der Entscheidung:

Bundesgerichtshof

Beschluss

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11.02.2021 durch … beschlossen:

Die Beklagte wird darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des Kammergerichts vom 20.12.2019 als unzulässig zu verwerfen.

Gründe:

I.
Der Kläger ist der Dachverband der 16 Verbraucherzentralen und 25 weiterer Verbraucher- und sozialorientierter Organisationen in Deutschland. Die Beklagte betreibt einen Online-Streaming-Dienst, dessen Nutzung im Internet er-folgt und nach Abschluss eines Abonnementvertrags möglich ist. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung eines Bestellbuttons auf ihrer Inter-netseite sowie wegen einer Klausel in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf Unterlassung in Anspruch.

Das Berufungsgericht hat der Klage stattgegeben und die Revision nicht zugelassen. Den Streitwert hat es in Übereinstimmung mit dem Landgericht ent-sprechend den Angaben des Klägers in der Klageschrift auf insgesamt 17.500 € festgesetzt. Zur beabsichtigten Streitwertfestsetzung hat es beide Parteien in der mündlichen Verhandlung angehört; Einwände wurden nicht erhoben. Nach Er-lass des Berufungsurteils hat die Beklagte Anhörungsrüge nach § 321a ZPO er-hoben mit dem Ziel, die Zulassung der Revision zu erreichen und den Streitwert auf mehr als 20.000 € zu erhöhen. Das Berufungsgericht hat die Anhörungsrüge zurückgewiesen. Außerdem hat die Beklagte sowohl beim Landgericht als auch beim Berufungsgericht Streitwertbeschwerde eingelegt. Das Landgericht hat der Streitwertbeschwerde abgeholfen und den Streitwert auf 30.000 € festgesetzt. Das Berufungsgericht hat die Streitwertbeschwerde als Gegenvorstellung ausge-legt und ebenfalls eine Heraufsetzung des Streitwerts auf 30.000 € vorgenom-men.

Mit der beabsichtigten Revision, deren Zulassung sie mit der Nichtzu-lassungsbeschwerde begehrt, möchte die Beklagte ihren Antrag auf Klageab-weisung weiterverfolgen. Sie meint, sie sei durch das Berufungsurteil entspre-chend der zuletzt erfolgten Streitwertfestsetzung mindestens in Höhe von 30.000 € beschwert.

II.
Der Senat beabsichtigt, die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil der Wert der von der Beklagten mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 € nicht übersteigt (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Sie entspricht dem ursprünglich vom Berufungsgericht festgesetzten Streitwert und beträgt daher lediglich 17.500 €.

1.
Der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer, über den das Revisionsgericht ohne Bindung an eine – möglicherweise fehlerhafte – Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht selbst zu befinden hat (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2013 – XII ZR 8/13, NJW-RR 2013, 1401 Rn. 8; Beschluss vom 4. Mai 2017 – III ZR 615/16, juris Rn. 3; Beschluss vom 9. November 2018 – VI ZR 5/18, juris Rn. 3; Beschluss vom 19. Juni 2019 – IV ZR 224/18, juris Rn. 6; Beschluss vom 13. Oktober 2020 – VIII ZR 161/19, WRP 2021, 60 Rn. 22), bemisst sich nach dem Interesse des Rechtsmittelklägers an der Abänderung der Berufungsentscheidung. Für die Bewertung sind der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz und die bis dahin vom Kläger vorgebrachten Anknüpfungstatsachen maßgeblich (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2020 – III ZA 13/20, juris Rn. 4). Im Regelfall entspricht nicht nur der Streitwert des Verfahrens, sondern auch die Beschwer des zur Unterlassung verurteilten Beklagten dem Interesse des Klägers an dem Unterlassungstitel (BGH, Beschluss vom 19. April 2018 – I ZR 139/17, juris Rn. 2; Beschluss vom 28. November 2019 – I ZR 45/19, juris Rn. 2; Beschluss vom 25. Juni 2020 – I ZR 205/19, juris Rn. 7). Auf einen höheren Streitwert und eine damit einhergehende höhere Beschwer im Fall der Verurteilung hat die beklagte Partei daher bereits in den Vorinstanzen hinzuweisen. Einer beklagten Partei, die weder die Streitwertfestsetzung in den Vorinstanzen beanstandet noch sonst glaubhaft gemacht hat, dass für die Festlegung des Streitwerts maßgebliche Umstände, die bereits dort vorgebracht worden sind, nicht hinreichend berücksichtigt worden sind, ist es nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung regelmäßig versagt, sich erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde auf einen höheren, die erforderliche Rechtsmittelbeschwer erreichenden Wert zu berufen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. September 2013 – II ZR 117/11, juris Rn. 3; Beschluss vom 27. Oktober 2016 – III ZR 300/15, juris Rn. 5; Beschluss vom 21. Juni 2017 – VII ZR 41/17, NJW 2017, 3164 Rn. 11; Beschluss vom 19. Oktober 2017 – VI ZR 19/17, VersR 2018, 181 Rn. 5; Beschluss vom 10. Januar 2019 – V ZR 130/18, WuM 2019, 286 Rn. 6; Beschluss vom 25. Juni 2020 – I ZR 205/19, juris Rn. 7).

2.
Nach diesen Grundsätzen beträgt der Beschwerdewert nicht mehr als 17.500 €.

a)
Die Beklagte hat sich erstmals nach Erlass des Berufungsurteils gegen die nach Anhörung beider Parteien vorgenommene Streitwertfestsetzung durch das Berufungsgericht auf 17.500 € gewandt, ohne geltend zu machen, dass sie auf einen höheren Streitwert rechtfertigende Umstände schon in der Berufungsinstanz hingewiesen hätte. Parteivortrag zur Höhe von Streitwert und Beschwer, der erstmals nach Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung mit dem Ziel gehalten wird, die Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zu überschreiten, ist ebenso zu behandeln wie (erstmaliger) Vortrag im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 25. Juni 2020 – I ZR 205/19, juris Rn. 12). Er kann bei der Bemessung der Beschwer durch die Revisionsinstanz grundsätzlich auch dann keine Berücksichtigung finden, wenn er vom Berufungsgericht zum Anlass genommen worden ist, eine nachträgliche Heraufsetzung des Streitwerts vorzunehmen.

b)
Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes kann zwar dann geboten sein, wenn für die Partei kein Anlass bestanden hat, bereits vor Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu einem höheren Wert vorzutragen. Hiervon kann insbesondere dann auszugehen sein, wenn der Streitwert durch die Vorinstanzen auf einen die Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO überschreitenden Betrag festgesetzt worden ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2020 – VIII ZR 161/19, WRP 2021, 60 Rn. 3 und 11). Eine solche Konstellation ist im Streitfall angesichts des eindeutigen Hinweises des Berufungsgerichts auf die beabsichtigte, die Wertgrenze des § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht erreichende, Streitwertfestsetzung in der mündlichen Verhand-lung, gegen die die Parteien bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung keine Einwände erhoben haben, allerdings nicht gegeben.

c)
Maßgeblich ist damit der ursprünglich vom Berufungsgericht festgesetzte Streitwert in Höhe von 17.500 €. Anhaltspunkte dafür, dass die Streitwertbemessung auf Basis des bis zum Erlass des Berufungsurteils gehaltenen und damit allein zugrunde zu legenden Parteivorbringens Rechtsfehlern unterliegt, sie insbesondere ermessenfehlerhaft zu niedrig erfolgt ist, bestehen nicht.

III.
Die Beklagte erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen ab Zugang dieses Hinweisbeschlusses.

Vorinstanzen:
LG Berlin, Urteil vom 14.02.2019, Az. 52 O 92/18
KG Berlin, Urteil vom 20.12.2019, Az. 5 U 24/19

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