EuGH: e-Bikes sind nicht über die Kfz-Haftpflichtversicherung mitversichert

veröffentlicht am 9. Januar 2024

EuGH, Urteil vom 12.10.2023, Az.
Art. 1 Nr. 1 EU-RL 2009/103/EG

Der EuGH hat entschieden, dass ein Fahrrad, dessen Elektromotor nur eine Tretunterstützung bietet und das über eine Funktion verfügt, mit der es ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, wobei aber diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann, kein „Fahrzeug“ im Sinne der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ist. Zum Volltext der Entscheidung:

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

In der Rechtssache C‑286/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 7. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 2022, in dem Verfahren

KBC Verzekeringen NV

gegen

P&V Verzekeringen CVBA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung …

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der KBC Verzekeringen NV (im Folgenden: KBC) und der P&V Verzekeringen CVBA (im Folgenden: P&V) über den etwaigen Entschädigungsanspruch eines Versicherers für Arbeitsunfälle, der in die Rechte eines Radfahrers eingetreten ist, der mit einem Fahrrad mit Elektrounterstützung unterwegs war, gegen den Haftpflichtversicherer des Fahrers eines Autos, das in den Unfall verwickelt war, der zum Tod des Radfahrers führte.

Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/103 heißt es:

„Die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (Kfz-Haftpflichtversicherung) ist für die europäischen Bürger … von besonderer Bedeutung. …“

4        Art. 1 der Richtlinie („Begriffsbestimmungen“) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ,Fahrzeug‘ jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind;

…“

5        Art. 3 („Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.“

6        Art. 13 („Ausschlussklauseln“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft alle geeigneten Maßnahmen, damit für die Zwecke der Anwendung von Artikel 3 bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 ausgestellten Versicherungspolice als wirkungslos gilt, mit der die Nutzung oder das Führen von Fahrzeugen durch folgende Personen von der Versicherung ausgeschlossen werden:

b)      Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen;

…“

7        Am 24. November 2021 wurde die Richtlinie (EU) 2021/2118 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG (ABl. 2021, L 430, S. 1) erlassen. Die Richtlinie 2021/2118 ändert u. a. Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103. Nach Art. 2 der Richtlinie 2021/2118 tritt diese Änderung am 23. Dezember 2023 in Kraft.

Belgisches Recht

8        Art. 1 der Wet betreffende de verplichte aansprakelijkheidsverzekering inzake motorrijtuigen (Gesetz über die Haftpflichtversicherung in Bezug auf Kraftfahrzeuge) vom 21. November 1989 (Belgisch Staatsblad, 8. Dezember 1989, S. 20122) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 21. November 1989), enthält insbesondere folgende Definition:

„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzes ist beziehungsweise sind zu verstehen unter:

Kraftfahrzeugen: maschinell angetriebene Fahrzeuge, die zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden sind; an das Fahrzeug angekoppelte Vorrichtungen werden als Teil davon behandelt,

Mit Kraftfahrzeugen gleichgesetzt werden vom König bestimmte Anhänger, die eigens gebaut worden sind, um zwecks Beförderung von Personen oder Sachen an ein Kraftfahrzeug angekoppelt zu werden. Der König kann durch einen im Ministerrat beratenen Königlichen Erlass näher bestimmen, welche Beförderungsmittel unter den Begriff Kraftfahrzeug fallen.“

9        Art. 29bis §§ 1 bis 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„§ 1      Im Fall eines Verkehrsunfalls, an dem ein oder mehrere Kraftfahrzeuge beteiligt sind, … werden mit Ausnahme von Sachschaden und den von den Fahrern der beteiligten Fahrzeuge erlittenen Schäden alle Schäden, die die Opfer und ihre Rechtsnachfolger erleiden und die von Personenschaden oder Tod herrühren, … gesamtschuldnerisch von den Versicherern, die gemäß vorliegendem Gesetz die Haftpflicht der Eigentümer, Fahrer oder Halter der Kraftfahrzeuge decken, entschädigt. Vorliegende Bestimmung ist ebenfalls anwendbar, wenn der Fahrer den Schaden vorsätzlich verursacht hat.

§ 2      Fahrer eines Kraftfahrzeugs und ihre Rechtsnachfolger können sich nicht auf die Bestimmungen des vorliegenden Artikels berufen, außer wenn der Fahrer als Rechtsnachfolger eines Opfers, das kein Fahrer war, handelt und insofern der Fahrer den Schaden nicht vorsätzlich verursacht hat.

§ 3      Für die Anwendung des vorliegenden Artikels versteht man unter Kraftfahrzeug jedes Fahrzeug im Sinne von Artikel 1, mit Ausnahme [elektrischer Krankenfahrstühle, die von einer Person mit Behinderung betrieben werden können].“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10      Am 14. Oktober 2017 wurde BV (im Folgenden: der Geschädigte) mit seinem Fahrrad mit Elektrounterstützung im öffentlichen Straßenverkehr von einem Auto angefahren, das bei KBC gemäß dem Gesetz vom 21. November 1989 versichert war. Er wurde schwer verletzt und verstarb am 11. April 2018. Für den Geschädigten war dieser Unfall ein „Wegeunfall“; P&V, die Arbeitsunfallversicherung seines Arbeitgebers, erbrachte Schadensersatzleistungen und trat dadurch in seine Rechte und die seiner Rechtsnachfolger ein.

11      P&V verklagte KBC vor der Politierechtbank West-Vlaanderen, afdeling Brugge (Polizeigericht Westflandern, Abteilung Brügge, Belgien) auf Erstattung ihrer Leistungen nach Art. 1382 des Oud Burgerlijk Wetboek (früheres belgisches Zivilgesetzbuch) oder Art. 29bis des Gesetzes vom 21. November 1989. KBC erhob ihrerseits Widerklage, mit der sie von P&V die Rückzahlung von Beträgen verlangte, die zu Unrecht gezahlt worden seien. Zu ihrer Verteidigung machte P&V im Rahmen von Art. 29bis geltend, dass der Geschädigte nicht als Fahrer eines Kraftfahrzeugs angesehen werden könne.

12      Mit Urteil vom 24. Oktober 2019 entschied das Polizeigericht, dass der Fahrer des betreffenden Autos den Unfall zwar nicht verursacht habe, dass aber nach Art. 29bis des Gesetzes vom 21. November 1989 KBC den Geschädigten und die in seine Rechte eingetretene P&V dennoch entschädigen müsse; der Geschädigte sei nämlich kein Fahrer eines Kraftfahrzeugs gewesen und folglich nach Art. 29bis entschädigungsberechtigt.

13      KBC legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Rechtbank van eerste aanleg West-Vlaanderen, afdeling Brugge (Gericht Erster Instanz Westflandern, Abteilung Brügge, Belgien) ein. P&V legte Anschlussberufung ein.

14      Das Gericht Erster Instanz wies die Berufung mit Urteil vom 20. Mai 2021 ab und gab der Anschlussberufung statt. Zur Anwendung von Art. 29bis des Gesetzes vom 21. November 1989 stellte es insbesondere fest, dass der in diesem Artikel genannte Begriff „Kraftfahrzeug“ dem Begriff „Fahrzeug“ in Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 entspreche. Es führte aus, dass der Begriff „maschinell“ weder in dem Gesetz noch in der Richtlinie definiert werde, dieser Begriff aber gleichwohl eindeutig und der Ausdruck „maschinell angetrieben“ so zu verstehen sei, dass ein Kraftfahrzeug ein Fahrzeug sei, das ohne Muskelkraft bewegt werden könne. Daraus folge, dass ein Fahrrad kein Kraftfahrzeug im Sinne dieses Gesetzes sei, wenn es zwar über einen Hilfsmotor verfüge, der maschinelle Antrieb alleine jedoch das Fahrrad nicht in Bewegung setzen oder halten könne.

15      Das Gericht Erster Instanz stellte in Anbetracht der vom Hersteller des fraglichen Fahrrads mit Elektrounterstützung bereitgestellten Informationen fest, dass dessen Motor nur eine Tretunterstützung biete, dies auch für die Boost-Funktion des Motors gelte und diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden könne, sei es durch Treten, durch Schieben oder Anschieben des Fahrrads. Deshalb sei der Geschädigte kein Fahrer eines Kraftfahrzeugs im Sinne von Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 1989 und habe als „schwacher Verkehrsteilnehmer“ ebenso wie der Versicherer für Arbeitsunfälle, der in seine Rechte eingetreten sei, Anspruch auf Entschädigung nach Art. 29bis dieses Gesetzes.

16      KBC legte gegen das in Rn. 14 des vorliegenden Urteils genannte Urteil Kassationsbeschwerde vor dem Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien), dem vorlegenden Gericht, ein. Vor diesem Gericht macht KBC insbesondere geltend, dass die Definition des Begriffs „Kraftfahrzeug“ in Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 1989 derjenigen des Begriffs „Fahrzeug“ in Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 entspreche. Folglich sei das belgische Recht gemäß dieser Richtlinie auszulegen.

17      In der Sache trägt KBC vor, da Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 1989 nicht zwischen Fahrzeugen, die zum Verkehr zu Lande bestimmt seien und ausschließlich maschinell angetrieben werden könnten, und solchen, die auch maschinell angetrieben werden könnten, unterscheide, seien nur Fahrzeuge vom Anwendungsbereich dieses Gesetzes ausgenommen, die ausschließlich mit Muskelkraft angetrieben würden. Daraus schließt sie, dass die Rechtbank van eerste aanleg West-Vlaanderen, afdeling Brugge (Gericht Erster Instanz Westflandern, Abteilung Brügge) den Begriff „Kraftfahrzeug“ verkannt und gegen die Art. 1 und 29bis des genannten Gesetzes und insbesondere gegen Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 verstoßen habe.

18      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung des Begriffs „Fahrzeug“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 erfordere.

19      Daher hat der Hof van Cassatie (Kassationshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2021/2118, der „Fahrzeug“ als „jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug, welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind“, definiert, dahin auszulegen, dass ein Elektrofahrrad (Speed-Pedelec), dessen Motor nur Tretunterstützung bietet, so dass sich das Fahrrad nicht autonom, ohne Muskelkraft, sondern nur mittels eines Motors und Muskelkraft fortbewegen kann, und ein Elektrofahrrad, das mit einer Boost-Funktion ausgestattet ist, womit das Fahrrad bei Betätigung der Boost-Taste ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von 20 km/h beschleunigt wird, wobei allerdings Muskelkraft erforderlich ist, um die Boost-Funktion benutzen zu können, keine Fahrzeuge im Sinne dieser Richtlinie sind?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

20      Die deutsche Regierung bezweifelt die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, weil aus ihm nicht ersichtlich sei, warum es für die Beurteilung des Ausgangsrechtsstreits auf die ersuchte Auslegung des Unionsrechts ankomme. Der Rechtsstreit falle ausschließlich unter das nationale Haftungsrecht, das nicht durch das Unionsrecht harmonisiert sei; aus den Akten gehe nicht hervor, dass die unionsrechtlichen Vorschriften durch das nationale Recht für anwendbar erklärt worden seien.

21      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betreffen (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. Oktober 2020, Pegaso und Sistemi di Sicurezza, C‑521/18, EU:C:2020:867, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. Oktober 2020, Pegaso und Sistemi di Sicurezza, C‑521/18, EU:C:2020:867, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Im Übrigen hat der Gerichtshof zwar wiederholt entschieden, dass zwischen der Pflicht zur Deckung von Schäden, die Dritten durch Kraftfahrzeuge entstehen, durch die Haftpflichtversicherung auf der einen und dem Umfang ihrer Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten auf der anderen Seite zu unterscheiden ist. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung festgelegt und garantiert, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt (Urteile vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 28, und vom 30. März 2023, AR u. a. [Direkte Inanspruchnahme des Versicherers], C‑618/21, EU:C:2023:278, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Die Unionsregelung soll somit nicht die Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten harmonisieren, und diesen steht es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor frei, die Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen selbst zu regeln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 29, und vom 30. März 2023, AR u. a. [Direkte Inanspruchnahme des Versicherers], C‑618/21, EU:C:2023:278, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Folglich steht es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor grundsätzlich frei, im Rahmen ihrer Haftpflichtvorschriften insbesondere zu regeln, welche von Kraftfahrzeugen verursachten Schäden zu ersetzen sind, welchen Umfang dieser Schadensersatz hat und welche Personen Anspruch darauf haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Oktober 2013, Drozdovs, C‑277/12, EU:C:2013:685, Rn. 32, und vom 30. März 2023, AR u. a. [Direkte Inanspruchnahme des Versicherers], C‑618/21, EU:C:2023:278, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Wenn jedoch nach dem Recht eines Mitgliedstaats bei der Auslegung einer Bestimmung aus einem nicht harmonisierten Bereich auf einen unionsrechtlichen Begriff Bezug genommen werden muss, besteht ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass der aus dem Unionsrecht übernommene Begriff unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen er angewandt werden soll, einheitlich ausgelegt wird, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (vgl. entsprechend Urteile vom 24. Oktober 2019, Belgische Staat, C‑469/18 und C‑470/18, EU:C:2019:895, Rn. 22, und vom 27. April 2023, Banca A [Anwendung der Fusionsrichtlinie auf einen innerstaatlichen Sachverhalt], C‑827/21, EU:C:2023:355, Rn. 44).

27      Im vorliegenden Fall betrifft die Vorlagefrage nicht die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Bereiche. Insbesondere will das vorlegende Gericht vom Gerichtshof nicht wissen, ob ein Geschädigter wie der im Ausgangsverfahren einen Schadensersatzanspruch nach der Richtlinie 2009/103 hat, sondern es fragt den Gerichtshof nur nach der Tragweite des Begriffs „Fahrzeug“ in Art. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie.

28      Die Ausführungen des vorlegenden Gerichts zum Zusammenhang zwischen dem anwendbaren nationalen Recht und dieser Bestimmung der Richtlinie 2009/103 – diesen Zusammenhang haben die nationalen Gerichte dem Gerichtshof nach Art. 94 Buchst. c seiner Verfahrensordnung darzulegen – sind zwar knapp, doch gibt dieses Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen an, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Auslegung dieses Begriffs erfordere. Außerdem ergibt sich aus dieser Frage, dass nach Auffassung des vorlegenden Gerichts die Definition des Begriffs „Kraftfahrzeug“ in Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 1989 derjenigen des Begriffs „Fahrzeug“ in der genannten Bestimmung der Richtlinie 2009/103 entspricht.

29      Im Übrigen verfügt der Gerichtshof zum einen über die notwendigen tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind und zum anderen bestehen an den Gegebenheiten des Ausgangsrechtsstreits sowie an der nicht hypothetischen Natur dieser Frage keine Zweifel.

30      Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Vorlagefrage

31      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen ist, dass ein Fahrrad, dessen Elektromotor nur eine Tretunterstützung bietet und das über eine Funktion verfügt, mit der es ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, wobei aber diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann, ein „Fahrzeug“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

32      Bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts sind nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

33      Seinem Wortlaut nach bestimmt Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103, dass der Begriff „Fahrzeug“ im Sinne dieser Richtlinie „jedes maschinell angetriebene Kraftfahrzeug [bezeichnet], welches zum Verkehr zu Lande bestimmt und nicht an Gleise gebunden ist, sowie die Anhänger, auch wenn sie nicht angekoppelt sind“. Folglich bezeichnet dieser Begriff, soweit er sich auf „jedes … Kraftfahrzeug“ bezieht, entsprechend seinem Sinn nach dem allgemeinen Sprachgebrauch notwendigerweise ein Gefährt, das dazu bestimmt ist, sich mit Hilfe einer von einer Maschine erzeugten Kraft zu Lande fortzubewegen, im Gegensatz zu einer menschlichen oder tierischen Kraft, mit Ausnahme von Schienenfahrzeugen.

34      Zwar ergibt sich somit aus dem Wortlaut von Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103, dass nur maschinell angetriebene Fahrzeuge, die zum Verkehr zu Lande bestimmt sind, mit Ausnahme derer, die sich auf Schienen fortbewegen, „Fahrzeuge“ im Sinne dieser Bestimmung sind, doch beantwortet dieser Wortlaut allein noch nicht die vorgelegte Frage, da er keinen Anhaltspunkt dafür enthält, ob das betreffende Fahrzeug ausschließlich maschinell angetrieben sein muss.

35      So könnten etwa die Fassungen von Art. 1 Nr. 1 in französischer, italienischer, niederländischer und portugiesischer Sprache, in denen in Bezug auf den maschinellen Antrieb davon die Rede ist, dass dieser die betreffenden Fahrzeuge antreiben „kann“, so verstanden werden, dass „Fahrzeuge“ im Sinne dieser Bestimmung nicht nur solche sind, die ausschließlich maschinell angetrieben werden, sondern auch solche, die mit anderen Mitteln fortbewegt werden können. In anderen Sprachfassungen, insbesondere in der spanischen, deutschen, griechischen, englischen und litauischen Sprache, ist diese Bestimmung hingegen anders formuliert, so dass sie nicht in diesem Sinne verstanden werden kann.

36      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen aber die Vorschriften des Unionsrechts im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Texts des Unionsrechts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans, C‑280/04, EU:C:2005:753, Rn. 31, und vom 21. Dezember 2021, Trapeza Peiraios, C‑243/20, EU:C:2021:1045, Rn. 32).

37      In Bezug auf die allgemeine Systematik der Richtlinie 2009/103 ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie mit der verpflichtenden „Haftpflichtversicherung“, die die Richtlinie vorsieht, die „Kfz-Haftpflichtversicherung“ gemeint ist; dieser Ausdruck bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise eine Haftpflichtversicherung für den Verkehr von Gefährten wie Motorrädern, Personenkraftwagen und Lastkraftwagen, die, mit Ausnahme des Falls, dass sie stillgelegt wurden, ausschließlich maschinell angetrieben werden.

38      Zum anderen bestimmt Art. 13 Abs. 1 Buchs. b der Richtlinie 2009/103, dass jeder Mitgliedstaat alle geeigneten Maßnahmen trifft, damit für die Zwecke der Anwendung von Art. 3 der Richtlinie bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Art. 3 ausgestellten Versicherungspolice als wirkungslos gilt, mit der die Nutzung oder das Führen von Fahrzeugen durch Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, von der Versicherung ausgeschlossen werden. Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. 2006, L 403, S. 18) ergibt sich aber, dass grundsätzlich nur das Führen von mit eigener Kraft verkehrenden Fahrzeugen mit Ausnahme von Schienenfahrzeugen einen nationalen Führerschein erfordert.

39      Was die Ziele der Richtlinie 2009/103 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese bezweckt, den freien Verkehr sowohl der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Union als auch der Fahrzeuginsassen zu gewährleisten und denjenigen, die bei Unfällen, die durch diese Fahrzeuge verursacht wurden, geschädigt worden sind, unabhängig davon, wo in der Union sich der Unfall ereignet hat, eine vergleichbare Behandlung zu garantieren, ebenso wie den Schutz derjenigen zu gewährleisten, die bei Unfällen, die durch diese Kraftfahrzeuge verursacht wurden, geschädigt worden sind; dieses Ziel des Schutzes der Opfer wurde vom Unionsgesetzgeber beständig verfolgt und gestärkt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 2019, Línea Directa Aseguradora, C‑100/18, EU:C:2019:517, Rn. 33, 34 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 20. Mai 2021, K.S. [Kosten der Überführung eines beschädigten Fahrzeugs], C‑707/19, EU:C:2021:405, Rn. 27).

40      Gefährte, die nicht ausschließlich maschinell angetrieben werden und die sich daher nicht ohne Einsatz von Muskelkraft zu Lande fortbewegen können, wie etwa das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fahrrad mit Elektrounterstützung, das im Übrigen ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, sind jedoch nicht geeignet, Dritten Personen- oder Sachschäden zuzufügen, deren Schwere oder Ausmaß mit denen vergleichbar sind, die von Motorrädern, Personenkraftfahrzeugen, Lastkraftfahrzeugen oder anderen ausschließlich maschinell angetriebenen Landfahrzeugen verursacht werden können, die immer noch weit überwiegend zu Verkehrszwecken verwendet werden, da Letztere eine gewisse Geschwindigkeit erreichen können, die wesentlich höher ist als die Geschwindigkeit, die von solchen Gefährten erreicht werden kann. Das von der Richtlinie 2009/103 verfolgte Ziel des Schutzes der Opfer von durch Kraftfahrzeuge verursachten Verkehrsunfällen erfordert damit nicht, dass solche Gefährte unter den Begriff „Fahrzeug“ im Sinne von Art. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie fallen.

41      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen ist, dass ein Fahrrad, dessen Elektromotor nur eine Tretunterstützung bietet und das über eine Funktion verfügt, mit der es ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, wobei aber diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann, kein „Fahrzeug“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

 Kosten

42      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht ist dahin auszulegen, das ein Fahrrad, dessen Elektromotor nur eine Tretunterstützung bietet und das über eine Funktion verfügt, mit der es ohne Treten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h beschleunigt werden kann, wobei aber diese Funktion nur nach Einsatz von Muskelkraft aktiviert werden kann, kein „Fahrzeug“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

 

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