Hess. VGH, Urteil vom 07.05.2015, Az. 8 A 256/14
§ 20 Abs. 3 JMStV
Der Hess. VGH hat entschieden, dass eine Fernsehsendung, die durch einen hohen Aktualitätsbezug gekennzeichnet ist (z.B. Nachrichten), nicht gegenüber der Freiwilligen Selbstkontrolle vorab vorlagefähig ist, weil der erforderliche zeitliche Vorlauf vor Ausstrahlung nicht vorhanden ist. Dies gelte auch für eine Sendung wie „Big Brother“, da eine vorherige Kontrolle und verzögerte Ausstrahlung letztere überflüssig mache. Bevor in einem solchen Fall aufsichtsrechtliche Maßnahmen getroffen werden, müsse sich aber die FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen) als Einrichtung der FSK jedenfalls mit der Sendung befassen. Zum Volltext der Entscheidung:
Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 31. Oktober 2013 – 1 K 391/12.KS – abgeändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 15. September 2010 und deren Widerspruchsbescheid vom 1. März 2012 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten durch die Klägerin im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar. Die Beklage kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Kostenbetrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Kostenbetrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen rundfunkrechtlichen Aufsichtsbescheid.
Die Klägerin strahlte im Rahmen des Fernsehprogramms „RTL II“ im Jahr 2009 die Sendung „Big Brother“ aus. Bei dieser Sendung handelt es sich um ein sogenanntes Reality-Fernsehformat, das von der Firma X… GmbH im Auftrag der Klägerin produziert wird. Gegenstand der Sendung ist das Zusammenleben mehrerer Menschen über einen längeren Zeitraum – im Fall der in Rede stehenden Staffel 211 Tage – in einem eigens für sie eingerichteten und mit entsprechender Kameratechnik ausgestatteten Haus, dem sogenannten Big Brother-Haus. Diese Personen müssen Aufgaben lösen, die ihnen von der Produktionsfirma gestellt werden. Das Geschehen im Big Brother-Haus ist Gegenstand regelmäßiger tagesaktueller Berichterstattung in der Presse. Täglich erscheinen während einer Big Brother-Staffel zahlreiche Presseartikel, die die Ereignisse aufbereiten, Portraits der Protagonisten einschließlich der sich zwischen den Bewohnern des Hauses entwickelnden Liebesgeschichten und Streitigkeiten zeichnen, und so das Interesse der Leser nach Neuigkeiten aus dem Big Brother-Haus befriedigen. Der Pay-TV-Anbieter Sky Deutschland (zum Zeitpunkt der Ausstrahlung der in Rede stehenden Staffel noch: Premiere) überträgt über einen eigenen Pay-TV-Kanal live über 23 Stunden täglich Bilder aus dem Big Brother-Haus. Die entsprechende urheberrechtliche Lizenz räumt die Klägerin dem Anbieter Sky Deutschland ein. Die Klägerin selbst strahlte während der damaligen Staffel täglich eine Zusammenfassung der Ereignisse des Vortages sowie wöchentliche Entscheidungsshows aus, bei denen gezeigt wurde, wie jeweils einer der Bewohner aufgrund der Wahl durch die Zuschauer aus dem Haus ausziehen musste. Die hier in Rede stehende Sendung betrifft eine Zusammenfassung der Ereignisse im Big Brother-Haus vom 25. März 2009 und der Morgenstunden des 26. März 2009. Diese Sendung wurde am 26. März 2009 zwischen 19 Uhr und 20 Uhr ausgestrahlt.
Der Produktionsablauf der Sendung stellte sich bei diesem Format generell wie folgt dar: Parallel zur Aufzeichnung der Live-Bilder sichteten Mitarbeiter der Produktionsgesellschaft die Aufnahmen im Hinblick auf die Verwertbarkeit der Szenen im Rahmen der Tageszusammenfassung. Dabei erstellte die Produktionsgesellschaft zwischen 28 und 40 einzelne zur späteren Ausstrahlung bestimmte Aufnahmeparzellen, die Stück für Stück am Sendetag an die Klägerin übertragen wurden. Die ersten Parzellen wurden gegen 9 Uhr, die letzten zwischen 15:30 Uhr und 17:30 Uhr, in Ausnahmefällen sogar später, an die Klägerin übermittelt. Bei den Parzellen handelte es sich jeweils um Rohschnitte ohne Vertonung. Der zugehörige sogenannte Off-Text als Sendungsuntermalung lag der Klägerin ab 13 Uhr des Ausstrahlungstages vor. Die Vertonung der Sendung selbst erfolgte nach Abnahme aller Rohparzellen zwischen 16 Uhr und 17:30 Uhr des Ausstrahlungstages. Dieser Zeitpunkt verschob sich in Ausnahmefällen je nach Übertragung der letzten Parzellen. Somit lag der Klägerin eine ausstrahlungsfertige Sendung in der Regel zwischen 18:30 Uhr und 19 Uhr am Ausstrahlungstag vor. Teilweise bedurfte es sogar des Sendens in mehreren Blockeinheiten, da es zuvor zu Verzögerungen kommen konnte. In diesen Fällen lag sogar um 19 Uhr die vollständige Sendung noch nicht vor.
Das Überspielen der in Rede stehenden Sendung vom Produktionsbereich an die Klägerin zur Ausstrahlung begann am 26. März 2009 um 18:01 Uhr. Sie erfolgte in Echtzeit und dauerte 47 Minuten und 41 Sekunden. Die Sendung lag somit am Ausstrahlungstag frühestens um 18:48 Uhr sendebereit bei der Klägerin vor.
Im Rahmen dieser Sendung, deren Ausstrahlung einen Zeitraum von 60 Minuten umfasste, wurden über einen Zeitraum von ca. vier Minuten mehrere „Bettszenen“ zusammengeschnitten sowie ein Gespräch zwischen den Darstellern X. und Y., bei dem es darum ging, dass Y. nicht bereit sei, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen.
Ausgelöst durch eine Zuschauerbeschwerde legte die Beklagte eine Aufzeichnung der Sendung zur Prüfung bei der Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) vor. Die mit der Beurteilung der Sendung zunächst befasste Prüfgruppe der KJM empfahl als Ergebnis ihrer Sitzung vom 30. September 2009 dem Prüfausschuss der KJM, keinen Verstoß gegen jugendschutzrechtliche Bestimmungen festzustellen. Der Prüfausschuss der KJM stimmte im Umlaufverfahren mehrheitlich für die Auffassung der Prüfgruppe.
Am 20. Januar 2010 befand die KJM gleichwohl, dass die Klägerin mit der Ausstrahlung der Sendung gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. mit Abs. 3 Nr. 2 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag – JMStV -) in der Fassung vom 28. Juli 2009 (GVBl. I S. 363) verstoßen habe.
Die von der Beklagten daraufhin angehörte Klägerin vertrat die Auffassung, die betroffene Sendung verstoße nicht gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 2 JMStV. Sie sei nicht geeignet, Kinder unter zwölf Jahren sozialethisch zu desorientieren und ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen. Darüber hinaus läge ein Verfahrenshindernis gemäß § 20 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. Satz 1 JMStV vor, da vor dem Erlass von Maßnahmen seitens der KJM zunächst die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen e. V. (FSF) mit dem behaupteten Verstoß zu befassen sei.
In ihrer Beschlussvorlage an die KJM vom 8. Juli 2010 sprach sich die Beklagte dafür aus, an der vorläufigen Bewertung der KJM vom 20. Januar 2010 festzuhalten. Vor der Einleitung weiterer Maßnahmen sei indes gemäß § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV die FSF mit dem Fall zu befassen, da es sich um eine nichtvorlagefähige Sendung handele und die Klägerin Mitglied der FSF sei. In ihrer Sitzung am 28. Juli 2010 beschloss die KJM einstimmig, an ihrer vorläufigen Bewertung vom 20. Januar 2010 auch unter Würdigung des Vortrags der Klägerin festzuhalten. Es sei gegenüber der Klägerin eine Beanstandung auszusprechen. Für die Ausstrahlung der Sendung werde eine Sendezeitbeschränkung für die Zeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr festgelegt.
Der daraufhin erlassene Aufsichtsbescheid der Beklagten vom 15. September 2010 sieht in den Nummern 1 bis 3 seines Tenors Folgendes vor:
Es wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin mit der Ausstrahlung der Sendung „Big Brother“ am 26. März 2009 zwischen 19 Uhr und 20 Uhr gegen § 5 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 2 JMStV verstoßen habe (Nr. 1). Es wird angeordnet, diesen Verstoß zukünftig zu unterlassen (Nr. 2). Es wird festgestellt, dass es sich bei den Tageszusammenfassungen des Sendeformats „Big Brother“ im Programm der Klägerin um vorlagefähige Sendungen im Sinne von § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV handele. Es bestehe kein Verfahrenshindernis nach § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV (Nr. 3). Wegen der Begründung dieser Maßnahmen wird auf den Bescheid vom 15. September 2010 verwiesen, der der Klägerin am 16. September 2010 zugestellt wurde.
Am 18. Oktober 2010, einem Montag, legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid ein. Zur Begründung trug sie vor, der Bescheid sei sowohl formell als auch materiell rechtswidrig. In formeller Hinsicht bestehe ein Verfahrenshindernis, da die KJM es entgegen § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV unterlassen habe, die FSF mit der Sendung zu befassen. In materieller Hinsicht sei die beanstandete Sendung nicht geeignet, eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung auf Kinder und Jugendliche unter zwölf Jahren zu entfalten. Wegen der Einzelheiten wird auf die Widerspruchsbegründung der Klägerin vom 23. November 2010 (Bl. 202 Behördenakte) Bezug genommen.
Die von der Klägerin – nicht von der KJM – mit einer nachträglichen Prüfung der Sendung befasste FSF stellte mit Prüfentscheidung vom 12. Oktober 2010 fest, dass die beanstandete Sendung keinen Inhalt habe, bei dem eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 JMStV auf Kinder und Jugendliche anzunehmen sei, die den Anbieter zu einer Sendezeitbeschränkung verpflichte.
Die KJM fasste in ihrer Sitzung am 10. August 2011 den Beschluss, an ihrer Entscheidung vom 28. Juli 2010 auch unter Berücksichtigung der Widerspruchsbegründung vom 23. November 2010 festzuhalten. Mit Bescheid vom 1. März 2012 (Bl. 226 Behördenakte) wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Wegen der Begründung wird auf den Widerspruchsbescheid (Bl. 226 Behördenakte) verwiesen, der der Klägerin am 6. März 2012 zugestellt wurde.
Am 26. März 2012 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie wiederholt und vertieft ihre Ausführungen im Verwaltungsverfahren.
Die Klägerin hat beantragt,
den rundfunkrechtlichen Aufsichtsbescheid der Beklagten vom 15. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2012 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Hinblick auf das von der Klägerin geltend gemachte Verfahrenshindernis nach § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV führt die Beklagte aus, als Landesmedienanstalt gemäß § 17 Abs. 1 JMStV an die Einschätzung der KJM gebunden zu sein, wonach es sich um eine vorlagefähige Sendung handele. Inhaltlich sei die in Rede stehende Sendung geeignet, Kinder und Jugendliche unter zwölf Jahren sozialethisch zu desorientieren und somit in ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen.
Das Verwaltungsgericht hat mit dem im Tenor bezeichneten Urteil vom 31. Oktober 2013 die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin hätte die Sendung „Big Brother“ vom 26. März 2009 der FSF vor Ausstrahlung vorlegen müssen. Es habe sich nicht um eine nichtvorlagefähige Sendung gehandelt. Regelfall sei die vorlagefähige Sendung, für die die Vorabkontrolle nach § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV eingreife. Eine nicht vorlagefähige Sendung, bei der die nachträgliche Prüfung gemäß § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV als Ausnahme zum Tragen komme, sei nur dann anzunehmen, wenn es – wie etwa bei Liveübertragungen – objektiv nicht möglich sei, eine Entscheidung der FSF vor der Ausstrahlung einzuholen. Bei der in Rede stehenden Sendung habe es sich danach um eine vorlagefähige gehandelt. Denn die Klägerin hätte Format und Produktionsbedingungen so steuern können, dass eine Vorabkontrolle nach § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV möglich gewesen wäre. Inhaltlich verstoße die Sendung „Big Brother“ vom 26. März 2009 gegen § 5 Abs. 1 JMStV, wonach Sendungen, die geeignet seien, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, nur in der Form zugänglich gemacht werden dürften, dass Kinder und Jugendliche der betroffenen Altersstufen sie üblicherweise nicht wahrnähmen. Sendungen, die für Kinder unter zwölf Jahren nicht geeignet seien, dürften erst ab 20 Uhr ausgestrahlt werden.
Das Verwaltungsgericht hat die Berufung zugelassen, da die Frage unter welchen Voraussetzungen eine Fernsehsendung als „nichtvorlagefähig“ im Sinne des § 20 Abs. 3 JMStV anzusehen sei, grundsätzliche Bedeutung habe.
Am 29. Januar 2014 hat die Klägerin gegen das ihr am 9. Januar 2014 zugestellte Urteil Berufung eingelegt und – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 31. März 2014 – mit an diesem Tag beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz begründet. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 31. März 2014 (Bl. 279 Gerichtsakte) Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 31. Oktober 2013 den Bescheid der Beklagten vom 15. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. März 2012 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil erster Instanz.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf die Schriftsätze der Beteiligten im gesamten Verwaltungsstreitverfahren und auf die Behördenakte, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel ist unzutreffend, da das Verwaltungsgericht die Klage zu Unrecht abgewiesen hat. Denn die Anfechtungsklage der Klägerin ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 15. September 2010 und der Widerspruchsbescheid vom 1. März 2012 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.
Die Beklagte ist allerdings originär zuständig für den Erlass von rundfunkrechtlichen Aufsichtsmaßnahmen. Nach § 20 Abs. 1 JMStV trifft die zuständige Landesmedienanstalt die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter, wenn sie feststellt, dass ein Anbieter gegen die Bestimmungen dieses Staatsvertrags verstoßen hat. Bei der Wahrnehmung der Aufgaben, die ihr nach § 20 Abs. 1 JMStV obliegen, ist die Beklagte dabei an die Entscheidungen der KJM gebunden. Denn diese Kommission dient der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt als Organ bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 14 Abs. 1 JMStV, wonach die zuständige Landesmedienanstalt die Einhaltung der für die Anbieter geltenden Bestimmungen nach diesem Staatsvertrag überprüft und entsprechend den Bestimmungen dieses Staatsvertrags die jeweiligen Entscheidungen trifft (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 2 JMStV). Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 5 und 6 JMStV sind die Beschlüsse der KJM gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend und deren Entscheidungen zugrunde zu legen.
2.
Die Beklagte war hier indes mangels von der KJM veranlasster Befassung der FSF nach § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV nicht befugt, die im Bescheid vom 15. September 2010 vorgesehenen rundfunkaufsichtlichen Maßnahmen gegenüber der Klägerin zu treffen. Mangels vorheriger Einschaltung der FSF war auch die KJM als Organ der Beklagten nicht berechtigt, den die Beklagte bindenden Beschluss über Aufsichtsmaßnahmen vom 28. Juni 2010 zu fällen. Denn die originäre Zuständigkeit der Landesmedienanstalten und ihrer Organe zur hoheitlichen Aufsicht ist nach § 20 Abs. 3 JMStV grundsätzlich keine primäre Zuständigkeit, sondern prinzipiell der Überprüfung durch Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle nachgelagert.
§ 20 Abs. 3 JMStV ist Ausdruck des Konzepts der sogenannten regulierten Selbstregulierung. Dieses Konzept ist dadurch charakterisiert, dass der Staat seine verfassungsrechtliche Aufgabe zum Jugendschutz im Medienbereich der Steuerung durch gesellschaftliche Akteure anvertraut, ohne seine Letztverantwortung aufzugeben. Den Selbstkontrolleinrichtungen wird eine originär staatliche Aufgabe übertragen. § 20 Abs. 3 JMStV steht im Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsrechtlich verankerten staatlichen Verpflichtung zur Gewährung effektiven Jugendschutzes einerseits und dem sich aus der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) ergebenden Postulat einer möglichst staatsfernen und damit zugleich anbieterschonenden Gestaltung von Aufsichtsmechanismen. § 20 Abs. 3 JMStV bewirkt den Ausgleich beider Interessen, indem die Regelung als Folge einer vorgeschriebenen Inanspruchnahme einer anerkannten Einrichtung der Selbstkontrolle eine verringerte Kontrolldichte der KJM vorsieht und damit einen weitgehenden Schutz vor Sanktionen durch dieses Organ der die staatliche Aufsicht ausübenden Landesmedienanstalt bewirkt. § 20 Abs. 3 JMStV unterscheidet dabei zwischen vorlagefähigen (Satz 1) und nichtvorlagefähigen Sendungen (Satz 2). Für vorlagefähige Sendungen trifft § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV folgende Regelung: Tritt die KJM an einen Rundfunkveranstalter mit dem Vorwurf heran, er habe gegen Bestimmungen dieses Staatsvertrages verstoßen, und weist der Veranstalter nach, dass er die Sendung vor ihrer Ausstrahlung einer anerkannten Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle im Sinne dieses Staatsvertrages vorgelegt und deren Vorgaben beobachtet hat, so sind Maßnahmen durch die KJM im Hinblick auf die Einhaltung der Bestimmungen zum Jugendschutz durch den Veranstalter nur dann zulässig, wenn die Entscheidung oder die Unterlassung einer Entscheidung der anerkannten Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle die rechtlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums überschreitet.
Bei nichtvorlagefähigen Sendungen ist gemäß § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV vor Maßnahmen bei behaupteten Verstößen gegen den Jugendschutz – mit Ausnahme von hier nicht in Rede stehenden Verstößen gegen § 4 Abs. 1 JMStV – durch die KJM die anerkannte Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle, der der Rundfunkveranstalter angeschlossen ist, zu befassen. Aufsichtsmaßnahmen der KJM sind nur zulässig, wenn die Entscheidung der freiwilligen Selbstkontrolle die rechtlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums überschreitet (§ 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 i. V. m. Satz 1 JMStV).
Die FSF, bei der es sich um eine Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle nach §§ 20 Abs. 3, 19 JMStV handelt, und der sich auch die Klägerin angeschlossen hat, ist hier vor Erlass der angegriffenen aufsichtsbehördlichen Maßnahmen seitens der KJM nicht befasst worden. Damit aber fehlt es an einer nach § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV erforderlichen Voraussetzung für ein rechtmäßiges Tätigwerden der Beklagten und der KJM als ihres Organs im Rahmen der Rundfunkaufsicht. Denn bei der Sendung des Formats „Big Brother“ vom 26. März 2009 hat es sich um eine nichtvorlagefähige Sendung im Sinne von § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV gehandelt.
Der Begriff der nichtvorlagefähigen Sendung wird im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag nicht definiert. In der amtlichen Begründung zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in dessen ursprünglichen, am 1. April 2003 in Kraft getretenen Fassung (abrufbar unter http: //www.Ipr-Hessen.de/files/jmstv_amtlbegr.pdf) wird zu § 20 Abs. 3 JMStV ausgeführt:
In Abs. 3 wird festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung einer Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle von der Aufsicht anzuerkennen ist. Die Aufsicht überwacht die Angebote. Bestehen Hinweise, dass ein Angebot nicht den Jugendschutzbestimmungen dieses Staatsvertrages entspricht, prüft die Aufsicht und wendet sich gegebenenfalls an den Anbieter. Satz 1 betrifft nur die Angebote, die zu einer Vorabkontrolle geeignet sind. Das sind alle Angebote, die mit dem für eine Vorlage erforderlichen zeitlichen Vorlauf vor Ausstrahlung oder Einstellung ins Internet auf einem Trägermedium zur Verfügung stehen und insoweit vorlagefähig sind. Hat der Anbieter nicht vorgelegt, so entscheidet die KJM nach eigener Beurteilung und Rechtsauslegung. Gleiches gilt, wenn Auflagen der Selbstkontrolle vom Anbieter nicht beachtet wurden. Hat aber die Selbstkontrolle geprüft und der Anbieter eventuelle Vorgaben beachtet, überprüft die Aufsicht nur, ob sich die Selbstkontrolle im Rahmen des Beurteilungsspielraums gehalten hat, der vom Staatsvertrag und dazu erlassenen Satzungen und Richtlinien eingeräumt wird. Dies gilt auch für eine mögliche Ahnung als Ordnungswidrigkeit. Der Beurteilungsspielraum kann insbesondere bei falscher Auslegung eines Rechtsbegriffs oder unzutreffender Tatsachenermittlung überschritten sein. Ist dies der Fall, so stehen der KJM sämtliche Maßnahmen zur Verfügung, die das anzuwendende Landesrecht vorsieht. Damit soll jeder Missbrauch vermieden und sollen grobe Fehleinschätzungen korrigiert werden. Das gilt auch für die Fälle einer unterlassenen Entscheidung z.B. über eine Sendezeitauflage.
Sind Sendungen nichtvorlagefähig, so gilt Satz 2 mit dem Verweis auf Satz 1. Darunter fallen Live-Sendungen oder aktuelle Einspielungen z.B. in Nachrichtensendungen, die keiner Selbstkontrolleinrichtung vor Ausstrahlung hätten vorgelegt werden können, ohne die Ausstrahlung wegen Zeitablaufs überflüssig zu machen. Auch für diesen Fall soll zunächst die Selbstkontrolle eine Bewertung abgeben können. Einer staatlichen Maßnahme bedarf es da nicht, wenn die Entscheidung der Selbstkontrolle zutreffend ist und gegebenenfalls sogar eine angemessene Ahndung aufgrund des eigenen Sanktionskatalogs erfolgt….“
Im Rahmen der systematischen Auslegung ist bei der Bestimmung des Begriffs der nichtvorlagefähigen Sendung im Sinne des § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV die Programmfreiheit als Bestandteil der Rundfunkfreiheit des Rundfunkveranstalters nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu berücksichtigen. In den Schutzbereich der Programmfreiheit fallen auch die Entscheidungen eines Rundfunkveranstalters über das Format bzw. Konzept der Sendung, über die Produktionsabläufe sowie über den Zeitpunkt der Ausstrahlung. Ist ein bestimmtes Sendeformat nach der Entscheidung des Rundfunkveranstalters durch eine Aktualität des jeweiligen Geschehens geprägt, so ist dies von der staatlichen Aufsicht prinzipiell zu respektieren. Wegen der grundrechtlich geschützten Programmfreiheit kommt der Aufsichtsbehörde namentlich nicht die Befugnis zu, das Konzept des Rundfunkveranstalters in inhaltlicher Hinsicht zu überprüfen, etwa zu bewerten, ob eine Aktualität der Ausstrahlung wegen des besonderen Nachrichtenwerts der Sendung geboten oder dem Veranstalter eine Verschiebung zumutbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist als nichtvorlagefähige Sendung im Sinne des § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV ein Angebot eines Rundfunkveranstalters zu verstehen, das nach dessen Konzept durch einen Aktualitätsbezug gekennzeichnet ist, der eine Vorlage an eine Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle zur Überprüfung mit dem für sie erforderlichen zeitlichen Vorlauf vor Ausstrahlung nicht zulässt. Ein solches Verständnis entspricht auch der amtlichen Begründung zu § 20 Abs. 3 JMStV, die mit den für nichtvorlagefähigen Sendungen genannten Beispielen der Live- oder Nachrichtensendungen lediglich beispielhaft Angebote bezeichnet hat, bei denen der konzeptionelle Aktualitätsbezug in besonderem Maße deutlich ist. Diesem der Programmfreiheit des Rundfunkveranstalters Rechnung tragenden Verständnis der nichtvorlagefähigen Sendung kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, sie führe zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung des ebenfalls Verfassungsrang genießenden Jugendschutzes. Der Jugendmedienschutz wird durch § 20 Abs. 3 JMStV sowohl für vorlagefähige als auch nichtvorlagefähige Sendungen gewährleistet. Dabei sind die Vorabkontrolle bei vorlagefähigen Sendungen nach § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV und die nachträgliche Kontrolle bei nichtvorlagefähigen Sendungen im Sinne von § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV prinzipiell gleichwertig. Überdies hat ein Rundfunkveranstalter, der wiederholt schwerwiegend gegen seine Verpflichtungen aus dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag verstoßen und die Anweisungen der zuständigen Landesmedienanstalt innerhalb des von ihr bestimmten Zeitraums nicht befolgt hat, gemäß § 38 Abs. 4 Nr. 1 b) des Staatsvertrags zu Rundfunk- und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag-RStV) in der Neufassung vom 28. Juli 2009 (GVBl. I S. 278 ff.) den Widerruf der Zulassung als gebundene Entscheidung zu gewärtigen.
Gemessen an dieser Begriffsbestimmung handelt es sich bei der in Rede stehenden „Big Brother“-Sendung vom 26. März 2009 um eine nichtvorlagefähige Sendung im Sinne des § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV. Bei dem Format „Big Brother“ ist die Tagesaktualität unmittelbarer Bestandteil des Konzepts der Klägerin als Rundfunkveranstalterin. Die wesentlichen Ereignisse des Vortages werden zusammengestellt, dramaturgisch aufbereitet und noch am selben Tag zur Ausstrahlung gebracht. Durch diese just-in-time-Produktion kann das Sendematerial der FSF nicht mit dem für eine Vorlage erforderlichen zeitlichen Vorlauf zur Verfügung gestellt werden, ohne die Ausstrahlung nach dem maßgeblichen Konzept der Klägerin wegen Aktualitätsverlusts überflüssig zu machen.
Anhaltspunkte dafür, dass der von der Klägerin konzeptionell verfolgte Aktualitätsbezug des Formats „Big Brother“ (lediglich) bezweckt, die jugendmedienschutzrechtliche Vorabkontrolle bei vorlagefähigen Sendungen nach § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV zu umgehen, bestehen nicht, so dass das Berufungsgericht dahinstehen lässt, ob ein entsprechendes Verhalten eines Rundfunkveranstalters Auswirkungen auf die Qualifikation einer Sendung als vorlagefähig oder nichtvorlagefähig haben würde.
Da aus den genannten Gründen die Beklagte und die KJM als deren Organ mangels vorheriger Befassung der FSF auf Veranlassung der KJM nicht befugt waren, gegenüber der Klägerin in der geschehenen Weise rundfunkaufsichtsrechtlich tätig zu werden, sind der angefochtene Bescheid vom 15. September 2010 mit sämtlichen in ihm getroffenen Regelungen sowie der Widerspruchsbescheid vom 1. März 2012 aufzuheben, ohne dass es darauf ankommt, ob die Klägerin mit der Ausstrahlung der Sendung am 26. März 2009 inhaltlich gegen jugendmedienschutzrechtliche Vorgaben verstoßen hat.
3.
Die beiden regelnden Feststellungen in Nr. 3 des angefochtenen Bescheids vom 15. September 2010, wonach es sich bei den Tageszusammenfassungen des Sendeformats „Big Brother“ im Programm der Klägerin um vorlagefähige Sendungen im Sinne von § 20 Abs. 3 Satz 1 JMStV handelt und kein Verfahrenshindernis nach § 20 Abs. 3 Satz 2 JMStV besteht, sind zudem aus einem weiteren Grund rechtswidrig. Es fehlt nämlich an einer Rechtsgrundlage für den Erlass von feststellenden Verwaltungsakten mit den genannten die Klägerin belastenden Inhalten.
4.
Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Verfahrens als unterliegende Beteiligte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten durch die Klägerin im Vorverfahren ist im Hinblick auf die Schwierigkeit der sich stellenden jugendmedienschutzrechtlichen Fragen notwendig gewesen (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor. Die Rechtssache hat im Hinblick auf die Unterscheidung von vorlagefähigen und nichtvorlagefähigen Sendungen im Sinne des § 20 Abs. 3 JMStV grundsätzliche Bedeutung.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 50.000,00 € festgesetzt.
Gründe
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG. Der Senat bewertet die Bedeutung des im Berufungsverfahren verfolgten Streitgegenstandes unter Berücksichtigung der Angaben der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung mit 50.000 €.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Vorinstanz:
VG Kassel, Az. 1 K 391/12.KS