LG Düsseldorf: Ausnahmsweise kein Schadensersatz bei unberechtigter Schutzrechtsverwarnung / 2024

veröffentlicht am 4. April 2024

LG Düsseldorf, Urteil vom 20.02.2024, Az. 4c O 6/23
§ 280 Abs. 1 BGB, § 241 Abs. 2 BGB

Das LG Düsseldorf hat im vorliegenden Fall entschieden, dass der abgemahnten Partei (X) trotz schlussendlich fehlender Berechtigung zur Abmahnung, kein Anspruch auf Schadensersatz zusteht. Die in einem Vertrag zwischen den Parteien gewählte Formulierung „X reserves the right to claim damages arising from the undertaking in the event that the patents stated under clause 1 above are finally revoked.“ sei nicht als Anspruchsgrundlage für die Erstattung von Rechtsanwaltskosten für die Zurückweisung einer unberechtigten Schutzrechtsverwarnung zu verstehen, sondern als Hinweis darauf, dass  sich X ein bestimmtes Vorgehen vorbehalte („reserves the right“). Dem wörtlichen Verständnis nach solle X ein bestimmtes Vorgehen damit weiter möglich sein. Die Formulierung ziele auf die Erhaltung von Rechten der Partei X, nicht aber auf deren Begründung ab. Damit im Einklang stehe auch, dass allein auf X abgestellt wird und die abmahnende Beklagte keine Erwähnung finde. Auch liege kein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vor. Dies sei im Falle einer Schutzrechtsverwarnung nach geltender BGH-Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn der vermeintlich Berechtigte auf Grundlage eines objektiv unberechtigten gewerblichen Schutzrechtes an den Inhaber des Gewerbebetriebs ein ernsthaftes und endgültiges Unterlassungsbegehren richte. Gemessen an diesem Maßstab stelle das verfahrensgegenständliche Schreiben keinen solchen Eingriff dar. Es mangele bereits an der Geltendmachung eines ernsthaften und endgültigen Unterlassungsbegehrens. Eine Aufforderung zur Unterlassung spreche das Schreiben nicht aus. Vielmehr fordere es den Empfänger zu weiteren Erklärungen auf. So heiße es auf S. 2 des Schreibens: „We should be grateful if you would you [sic!] explain the apparent contradiction in X’s position“. Weiter werde unter der Überschrift „Way forward“ (lediglich) die Bereitstellung verschiedener, näher spezifizierter Informationen binnen 14 Tagen verlangt. Zum Volltext der Entscheidung:

Landgericht Düsseldorf

Urteil

I.                    Die Klage wird abgewiesen.

II.                  Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III.               Dieses Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

1Tatbestand

2Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz aus Vertrag sowie deliktisch aus behaupteter unberechtigter Schutzrechtsverwarnung in Anspruch.

3Die Klägerin ist die deutsche Tochtergesellschaft des international forschenden Pharmaunternehmens A. Der Fokus des Unternehmens liegt in der Erforschung chemischer und biologischer Wirkstoffe. Die Klägerin ist unter anderem im Generikamarkt tätig. Die Beklagte ist ein mittelständisches forschendes Pharmazieunternehmen mit derzeitigem Hauptsitz in X.

4Bei dem Produkt der Klägerin, „B“, handelt es sich um ein orales Oxycodon-Naloxon-Präparat zur Schmerztherapie mit verzögerter Freisetzung. In diesem Schmerzmittel sind die Stoffe Oxycodon und Naloxon kombiniert.

5Die Beklagte konnte eine Kombination dieser beiden Wirkstoffe bis zum 31. Mai 2017 exklusiv vertreiben. Für den Zeitraum nach dem Auslaufen der Marktexklusivität beabsichtigte die Klägerin entsprechende Generika auf den Markt bringen. Nachdem sie die Marktzulassung erhalten hatte, beabsichtigte die Klägerin unter anderem die Markteinführung in Deutschland. Die Klägerin plante ihr Schmerzmittel in den Wirkstärken 5/2,5 mg, 10/5mg, 20/10mg und 40/20 mg anzubieten.

6Mit Schreiben vom 25. Mai 2017 (Anlage KAP 2, deutsche Übersetzung KAP 2A) informierte die C ein Unternehmen der Unternehmensgruppe, welcher die Klägerin angehört, die D., ein Unternehmen der Unternehmensgruppe, der auch die der Beklagte angehört, darüber, die Marktzulassung für ihr Oxycodon/Nalaxon-Mittel erhalten zu haben und nach Ablauf der Marktexklusivität des Schmerzmittels der Beklagten („E“) ihr eigenes Produkt in den Markt einführen zu wollen. In diesem Schreiben wies die Muttergesellschaft der Klägerin bereits darauf hin, die in Rede stehenden Patente EP X (nachfolgend EP X EP X (nachfolgend EP X) und EP X (nachfolgend EP X) für nicht rechtsbeständig zu halten.

7Daraufhin nahm die Beklagte durch die Londoner Kanzlei F mit Schreiben vom 31. Mai 2017 (Anlage KAP 3, deutsche Übersetzung KAP 3A) gegenüber der Muttergesellschaft der Klägerin Stellung. Das Schreiben nahm Bezug auf das EP 1 492 505 und verwandte Patente, womit nach dem Verständnis der Parteien auch die EP X, EP X und EP X gemeint waren. Insbesondere stellte sich die Beklagte auf den Standpunkt, dass diese Patente entgegen der Auffassung der Klägerin rechtsbeständig seien.

8Die Klägerin hat mit Schreiben vom 07. Juni 2017 (Anlage KAP 4, deutsche Übersetzung KAP 4A) erneut gegenüber der Beklagten die Rechtsauffassung geäußert, dass die in Rede stehenden Patente nicht rechtsbeständig seien.

9Die Beklagte, vertreten durch die Kanzlei G, nahm gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 28. Juni 2017 (Anlage KAP 21, deutsche Übersetzung KAP 21A) erneut Stellung. Dem Schreiben waren eine anonymisierte Fassung einer Beschlussverfügung des Landgerichts München I (Az. 21 O 8130/17; Anlage KAP 22) vom 07. Juni 2017 als Anlage „Exibit 1“ und der Entwurf einer „Cease-and-desist Declaration“ beigefügt.

10In dem Schreiben vom 28. Juni 2017 heißt es (auszugsweise):

11„3. Your client is requested to cease and desist from any of the aforementioned infringing actions immediately. This obligation results from Art. 64 (1) European Patent Convention (EPC) in connection with §§ 9, 139 German Patent Act (Pate).

124. Your client is given the opportunity to avoid court proceedings and to amicably settle our client’s claims by signing and fulfilling in due time the attached declaration as to cease and desist

13Exhibit 2.

14Should your client fail to provide us with a respective undertaking latest by

153 July 2017

16we will advise our client to start legal action.“

17Auf Deutsch:

18„3. Ihre Mandantin wird aufgefordert, die oben genannten rechtsverletzenden Handlungen unverzüglich zu unterlassen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus Art. 64 (1) Europäisches Patentübereinkommen (EPÜ) in Verbindung mit §§ 9, 139 Patentgesetz (PatG).

194. Ihre Mandantin erhält die Möglichkeit, ein Gerichtsverfahren zu vermeiden und die Ansprüche unserer Mandantin gütlich zu regeln, indem sie die als

20Anlage 2

21beigefügte Unterlassungserklärung fristgerecht abgibt.

22Sollte Ihre Mandantin uns eine entsprechende Zusage nicht spätestens bis zum

233. Juli 2017

24erklären, werden wir unserer Mandantin empfehlen, Klage zu erheben.“

25Mit Schreiben vom 30. Juni 2017 (Anlage KAP 24, deutsche Übersetzung KAP 24A) antwortete die Klägerin auf das Schreiben der Beklagten und übersandte einen modifizierten Entwurf einer „Cease-and-desist Declaration“ (Anlage KAP 25, deutsche Übersetzung KAP 25A).

26Im Schreiben vom 30. Juni 2017 heißt es (auszugsweise):

27„As you will be aware, an unfounded warning letter provides a basis for a damages claim under German law. It should be understood that this declaration will be rendered without prejudice to any such damages claim that X may bring in the event that the Patents are invalidated.

28An amended declaration that is acceptable to our client is enclosed; the amendments reflect standard drafting of such declarations so we trust they are not contentious.“

29Auf Deutsch:

30„Wie Sie wissen, stellt eine unbegründete Abmahnung nach deutschem Recht eine Grundlage für einen Schadensersatzanspruch dar. Es versteht sich von selbst, dass diese Erklärung unbeschadet eines solchen Schadensersatzanspruchs abgegeben wird, den X im Falle der Ungültigerklärung der Patente geltend machen könnte.

31Eine geänderte Erklärung, die für unsere Mandantin annehmbar ist, ist beigefügt; die Änderungen entsprechen der Standardformulierung solcher Erklärungen, so dass wir davon ausgehen, dass sie nicht strittig sind.“

32Die Modifikation der der Klägerin übersandten „Cease-and-desist Declaration“ umfasst insbesondere das Hinzufügen eines letzten Satzes vor den Unterschriften, welcher lautet:

33„X reserves the right to claim damages arising from the undertaking in the event that the patents stated under clause 1 above are finally revoked.“

34Auf Deutsch:

35„X behält sich das Recht vor, Schadensersatzansprüche aus der Verpflichtung geltend zu machen, falls die unter Klausel 1 genannten Patente endgültig widerrufen werden.“

36Die Beklagte hat mit Schreiben vom 03. Juli 2017 (Anlage KAP 26, deutsche Übersetzung KAP 26A) ihr Einverständnis mit den vorgenommenen Änderungen erklärt, weitere – hier nicht weiter relevante – Änderungen am Entwurf der „Cease-and-desist Declaration“ vorgenommen und diesen der Klägerin erneut übersandt.

37Die Klägerin hat daraufhin am 04. Juli 2017 diesen von der Beklagten übermittelten finalen Entwurf der Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung unterzeichnet („Cease-and-desist Declaration“, Anlage KAP 5, deutsche Übersetzung KAP 5A, im Folgenden „Verpflichtungserklärung“) und der Beklagten mit Schreiben vom 05. Juli 2017 (Anlage KAP 27) übermittelt. Die Verpflichtungserklärung umfasste die EP X, EP X und EPX.

38Die Beklagte hat gestützt auf die geltend gemachten Schutzrechte vor dem Schreiben vom 28. Juni 2017 zwei einstweilige Verfügungen erwirkt, einmal am 17. Mai 2017, welche den Markteintritt durch die H verhinderte und weiter am 07. Juni 2017 die im Schreiben vom 28. Juni 2017 genannte Verfügung des Landgerichts München (siehe dazu bereits oben, Anlage KAP 22), welche den Markteintritt der I und der J verhinderte.

39Die streitgegenständlichen Patente sind sämtlich Teilanmeldungen, welchen die europäische Patentanmeldung X (entsprechend der internationalen Patentanmeldung PCT/EPXveröffentlicht als WO Xzugrunde liegt. Die Prüfungsabteilung war hinsichtlich der EP X, EPX und EP X personell identisch besetzt (siehe Anlagen AO 8–10, nebst Übersetzungen AO 8A–10A). Die Erteilung des EP X wurde am 16. November 2016 veröffentlicht. Der Erteilung gingen Einwendungen Dritter (mit Schriftsatz vom 09. März 2016, Anlage AO 2) voraus. Die Beklagte reagierte hierauf mit Schriftsatz vom 29. März 2016 (Anlage KAP 28) und reichte eine geänderte Fassung der Anträge ein. Der Prüfer erließ am 02. Juni 2016 die Mitteilung über die beabsichtigte Erteilung des Patents („Intention to grant“, Anlage KAP 30). Daraufhin wurden am 20. Juni 2016 (Anlage AO 3) weitere Einwendungen eingereicht. Die Beklagte antwortete wiederum mit Schriftsatz vom 05. Juli 2016 (Anlage KAP 31). Die Prüfungsabteilung erteilte am 20. Oktober 2016 das Patent (Erteilungsbeschluss Anlage KAP 32). Am 06. November 2018 widerrief die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts das EP X wegen unzulässiger Erweiterung (Anlage KAP 6). Die Gründe hierfür waren in den Einwendungen Dritter im Erteilungsverfahren bereits genannt. Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, zog diese in der mündlichen Verhandlung am 29. September 2021 jedoch zurück.

40Im Erteilungsverfahren des EPX haben Dritte keine Einwendungen eingereicht. Indes hatte die Prüfungsabteilung Bedenken hinsichtlich des Vorliegens einer unzulässigen Erweiterung. Die Antragstellerin nahm mit Schriftsatz vom 08. Februar 2017 (Anlage AO 7, deutsche Übersetzung AO 7A) Anspruchsänderungen vor und nahm ausdrücklich auf Art. 76 Abs. 1 EPÜ Bezug. Die Einspruchsabteilung hat das EPX am 11. September 2019 ebenfalls aufgrund unzulässiger Erweiterung widerrufen (auszugsweise KAP 9). Die Beklagte hat gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt. Diese Beschwerde hat die Beklagte allerdings am 20. Januar 2020 zurückgezogen.

41Im Erteilungsverfahren des EP X haben Dritte keine Einwendungen eingereicht. Die Einspruchsabteilung hat am 11. September 2019 das EP X ebenfalls wegen unzulässiger Erweiterung widerrufen (auszugsweise KAP 11), wobei die Begründung, soweit von den Parteien aktenkundig gemacht, in weitem Teilen wortgleich zum EPX ist. Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Die Beschwerdekammer hat diese am 23. September 2021 zurückgewiesen (auszugsweise KAP 12).

42Maßgeblicher Grund für den Widerruf der Europäischen Patente EP X, EPX und EP X war sämtlich, dass der jeweilige Gegenstand des Patents nicht eindeutig und unmittelbar in der Stammanmeldung, die für die genannten Patente, die allesamt abgespaltene Teilanmeldungen derselben Stammanmeldung sind, identisch ist, offenbart war.

43Der Klägerin sind für die arzneimittelrechtliche Zulassung ihrer Produkte im Jahr 2016 Kosten in Höhe von 30.656,00 EUR entstanden. Die Klägerin hat am 27. März 2017 Bestellungen über ihr Produkt mit den Wirkstoffstärken 40/20 und 20/10 in verschiedenen Verpackungsgrößen getätigt. Hierfür sind ihr in Summe 54.251,00 EUR an Kosten entstanden. Für die Einzelheiten wird auf die zur Akte gereichten Rechnungen Anlage KAP 14 und Anlage KAP 15 verwiesen.

44Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stehe gegen die Beklagte eine Forderung auf Ersatz des ihr durch den unterlassenen Markteintritt entstandenen Schadens zu. Aus der Verpflichtungserklärung ergebe sich eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung der Beklagten. Diese sei im Wege der Auslegung aus der Klausel „X reserves the right to claim damages arising from the undertaking in the event that the patents stated under clause 1 above are finally revoked.“ abzuleiten.

45Weiter ergebe sich auch aus Deliktsrecht aufgrund der schuldhaft und rechtswidrig erteilten Abmahnung eine Schadensersatzhaftung der Beklagten. Bereits das Schreiben vom 31. Mai 2017 sei als Abmahnung einzustufen. Insbesondere sei diesem ein endgültiges und ernsthaftes Unterlassungsbegehren zu entnehmen. Dass es an die Muttergesellschaft der Klägerin gerichtet sei, sei unschädlich. Die Beklagte habe auch fahrlässig hinsichtlich des Rechtsbestands ihrer Schutzrechte gehandelt, denn die Beklagte habe im Zeitpunkt der Abmahnung den später maßgeblichen Nichtigkeitsgrund bereits gekannt. Hierfür sei ausreichend, dass sie habe erkennen können, dass eine Vernichtung ihrer Patente möglich sei. Die Klägerin behauptet, zwar seien sämtliche Gründe, die später für den Widerruf der Europäischen Patente EP X, EPXund EP X maßgeblich geworden seien, bereits im Erteilungsverfahren bekannt gewesen. Diese seien von der Prüfungsabteilung aber nicht geprüft worden.

46Die Klägerin behauptet weiter, zusätzlich zu den oben genannten – unstreitigen – Anlaufkosten sei ihr allein im Geschäftsjahr 2017/2018 insgesamt ein Gewinn in Höhe von 594.572,20 EUR aufgrund des unterlassenen Markteintritts entgangen. Für die Einzelheiten des Klägervortrags zur Höhe der geltend gemachten Schadensersatzforderung wird auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 08. Februar 2023 sowie der Schriftsätze vom 30. Oktober 2023 und 18. Januar 2024 Bezug genommen.

47Die Klägerin ist deswegen der Ansicht, ihr stehe insgesamt Schadensersatz in Höhe der geltend gemachten 679.479,20 EUR für ihr Geschäftsjahr 2017/2018 zu.

48Hinsichtlich der Entstehung dieser Schäden habe die Klägerin auch keinerlei sie treffende Obliegenheiten verletzt. Eine anteilsmäßige Berücksichtigung eines klägerischen Verschuldens gemäß § 254 Abs. 1 BGB sei demnach ausgeschlossen.

49Die Klägerin beantragt,

50die Beklage zu verurteilen, an die Klägerin EUR 679.479,20 nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

51Die Beklagte beantragt,

52die Klage abzuweisen.

53Die Beklagte behauptet, die unterzeichnete Verpflichtungserklärung sei von der Beklagten nicht angenommen worden und stelle deshalb keinen Vertrag dar.

54In rechtlicher Hinsicht begründe die Verpflichtungserklärung keine, erst recht keine verschuldensunabhängige, Schadensersatzhaftung der Beklagten.

55Die geltend gemachte Schadensersatzforderung stehe der Klägerin auch nicht aus Deliktsrecht zu.

56Das Schreiben vom 31. Mai 2017 stelle bereits keine Abmahnung dar. Das Schreiben sei außerdem nicht an die Klägerin selbst adressiert gewesen. Allenfalls in dem Schreiben vom 28. Juni 2017 könne eine Abmahnung gesehen werden. Auch insoweit mangele es aber an einem schuldhaften rechtswidrigen Eingriff der Beklagten in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Klägerin.

57Die Beklagte habe sich überdies auf die Erteilung der Europäischen Patente EP X, EPX und EP X verlassen dürfen. Die für den Widerruf maßgeblichen Gründe seien im Erteilungsverfahren des EP X ausdrücklich vorgebracht und geprüft, in den Erteilungsverfahren der EPX und EP X jedenfalls auch geprüft worden. Besondere Umstände, warum die Beklagte über die Erteilung hinaus dem Rechtsbestand der Patente zu misstrauen gehabt hätte, seien nicht ersichtlich.

58Wenn man von einem entsprechenden Verschulden bei der erteilten Abmahnung ausgehe, so müsse sich die Klägerin ein ebensolches als Mitverschulden bei der Schadensentstehung anrechnen lassen. Denn in diesem Fall habe die Klägerin die mangelnde Rechtsbeständigkeit ebenso erkennen können und müssen.

59Die Beklagte bestreitet weiter die Höhe des der Klägerin entgangenen Gewinns. Dieser sei unzutreffend und überhöht berechnet. Hinsichtlich des Beklagtenvortrags insoweit wird auf die Schriftsätze vom 30. August 2023, 29. Dezember 2023 und 24. Januar 2024 verwiesen.

60Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2024 verwiesen.

61Entscheidungsgründe

62Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch mangels Schadensersatzforderung aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.

63I.

64Der Klägerin steht keine Schadensersatzforderung aus der Verpflichtungserklärung zu.

651.

66Zwar ist mit der Verpflichtungserklärung ein die Parteien bindender Vertrag zustande gekommen.

67Denn mit Zugang der unterschriebenen Verpflichtungserklärung bei der Beklagten ist zwischen den Parteien ein Vertrag zustande gekommen. Voraussetzung eines solchen Vertragsschlusses sind zwei korrespondierende Willenserklärungen, Angebot und Annahme, §§ 145 ff. BGB. Die Zusendung des modifizierten Entwurfs mit Schreiben vom 03. Juli 2017 durch die Beklagte stellt ein Angebot zur Annahme des übermittelten Vertrags dar. Das deutsche Recht – auf das in Ziffer 2. der Verpflichtungserklärung auch ausdrücklich Bezug genommen wird – begründet eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zur Unterlassung nur durch zweiseitigen Vertrag, nicht aber durch einseitige Erklärung. Bereits daraus ergibt sich, dass die – überdies durch eine deutsche Rechtsanwaltskanzlei vertretene – Beklagte der Klägerin den Abschluss eines Vertrags durch Übermittlung des Entwurfs anträgt. Dieses Angebot ist der Klägerin auch zugegangen.

68Die Klägerin ihrerseits hat durch Unterzeichnung am 04. Juli 2017 und Übersendung an die Beklagte, die die Verpflichtungserklärung auch erhalten hat, ihrerseits die Annahme des final übermittelten Entwurfs erklärt. Mit Zugang der unterzeichneten Verpflichtungserklärung ist diese damit als Vertrag zwischen den Parteien wirksam geworden. Auf eine (weitere) Annahme der unterzeichneten Erklärung kommt es nicht an, eine gegenüber der Klägerin erklärte Bestätigung hätte allenfalls Beweiswert.

692.

70Die Verpflichtungserklärung begründet indes keine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung der Beklagten.

71Die Klausel „X reserves the right to claim damages arising from the undertaking in the event that the patents stated under clause 1 above are finally revoked“, übersetzt: „X behält sich das Recht vor, Schadensersatzansprüche aus der Verpflichtung geltend zu machen, falls die unter Klausel 1 genannten Patente endgültig widerrufen werden“, begründet entgegen der Ansicht der Klägerin keine solche Haftung der Beklagten.

72Der Bedeutungsgehalt der Vertragsklausel ist im Wege der Auslegung zu bestimmen, §§ 133, 157 BGB. Gegenstand der Auslegung stellen dabei die korrespondierenden und jeweils empfangsbedürftigen Willenserklärungen der Klägerin sowie der Beklagten, welche auf den Abschluss der Verpflichtungserklärung gerichtet sind, dar. Auszugehen hat die Auslegung vom Wortlaut der Erklärung, wobei allerdings der tatsächliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften (statt aller BeckOK BGB/Wendtland, 68. Ed. 1.11.2023, BGB § 133 Rn. 23). Empfangsbedürftige Willenserklärungen sind dabei so auszulegen, wie der Empfänger sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung von Wortlaut, Begleitumständen und der Verkehrssitte verstehen musste (Wendtland, aaO, Rn. 27).

73Die Kammer kann eine solche Haftung der Verpflichtungserklärung als zwischen den Parteien geltendem vertraglichen Regelungsregime nicht entnehmen.

74Gegen ein solches Verständnis spricht schon der Wortlaut der Klausel. Nach diesem behält sich die Klägerin ein bestimmtes Vorgehen vor („reserves the right“). Dem wörtlichen Verständnis nach soll der Klägerin ein bestimmtes Vorgehen damit weiter möglich sein. Die Formulierung zielt auf die Erhaltung von Rechten der Klägerin, nicht aber auf deren Begründung. Damit im Einklang steht auch, dass allein auf die Klägerin abgestellt wird und die Beklagte keine Erwähnung findet.

75Ebenso spricht die systematische Stellung der Klausel ganz am Ende der Vereinbarung und nach der Rechtswahlklausel und Gerichtstandsvereinbarung gegen die Begründung einer originären Haftung der Beklagten aus der Vereinbarung. Im Allgemeinen ist, obwohl freilich Ausnahmen denkbar und zulässig sind, damit zu rechnen, dass die Parteien die Vereinbarung von wesentlichen Pflichten vor Nebenabreden treffen. Vorliegend ist die Unterlassungsverpflichtung, welche die Klägerin trifft, gesondert vorneweg und mit gesonderter Ziffer geregelt. Es wäre zu erwarten, dass die Parteien eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung der Beklagten ebenfalls vergleichbar gesondert hervorgehoben regeln würden. Die Position bei Rechtswahlklauseln und Gerichtstandsvereinbarung spricht hingegen für eine Nebenabrede von untergeordneter Bedeutung.

76Ebenfalls gegen die Begründung einer originären Verpflichtung der Beklagten durch die Klausel spricht die Unterzeichnung nur der Klägerin und ihrer Muttergesellschaft. Zwar ist eine entsprechende Abrede ohne weiteres formlos oder gar durch schlüssiges Verhalten möglich. Indes spricht die Ausgestaltung der Vereinbarung als einseitig nur durch die Klägerin und ihrer Muttergesellschaft zu unterzeichnen dafür, dass diese Unterschriften der Beklagten die Beweisführung ermöglichen sollen. Damit korrespondiert, dass die Vereinbarung im Wesentlichen Pflichten der Klägerin (und ihrer Mutter) begründen soll, deren Beweis dann geführt wird. Hätten die Parteien eine originäre Haftung aus der Vereinbarung verabreden wollen, so hätte es nahegelegen, auch eine Unterschrift durch die Beklagte vorzusehen, damit die Klägerin den Beweis des Vertragsschlusses führen kann.

77Ferner gegen ein Verständnis der Klausel als Begründung einer gesonderten Haftung spricht auch die Vertragsgeschichte. Die Klägerin hat die vorstehende Klausel einem Entwurf hinzugefügt und diesen mit der Anmerkung übersandt, es sollte durch eine Unterzeichnung keinesfalls eine Aussage darüber getroffen werden, ob der Klägerin Schadensersatzansprüche aus einer unbegründeten Abmahnung zustünden. Damit stellt die – anwaltlich vertretene – Klägerin einerseits ausdrücklich auf deliktsrechtliche Grundsätze ab, andererseits soll der Ausschluss des bereits ohne Abschluss der Vereinbarung bestehenden Schadensersatzregimes nicht erfolgen. Zudem erfolgte die Einfügung der Klausel mit dem Zusatz, dass sie Standardformulierungen entspreche und dass die Klägerin hierüber deswegen keinen ernstlichen Streit erwartet. Ein solches ist mit der Annahme der Einfügung einer verschuldensunabhängigen Schadensersatzhaftung schwerlich vereinbar. Damit spricht – auch vor dem Empfängerhorizont der Beklagten als Vertragspartner – die Entstehungsgeschichte der Klausel dafür, in dieser lediglich eine Klarstellung dahingehend zu sehen, dass sich die Klägerin nicht etwaiger bestehender deliktsrechtlicher Forderungen begeben wollte.

78Schließlich spricht auch nicht die Verwendung der Formulierung „arising from the undertaking“ (übersetzt: „aus der Verpflichtung“) gegen ein solches Verständnis. Denn auch ohne Begründung einer verschuldensabhängigen Haftung sind durchaus andere Schadensersatzansprüche aus allgemeinem Vertragsrecht aus der Verpflichtung denkbar. Zum anderen spricht die Entstehungsgeschichte der Klausel eindeutig dafür, dass vorliegend von den Parteien das deliktische Haftungsregime gemeint war.

79Eine originär aus der Verpflichtungserklärung abgeleitete vertragliche Schadensersatzhaftung der Beklagten scheidet deswegen aus.

803.

81Der Klägerin steht ebenfalls keine Schadensersatzforderung aus §§ 280 Abs. 1 gegebenenfalls i.V.m. 241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit der Verpflichtungserklärung zu.

82Zwar stellt die Verpflichtungserklärung ein Schuldverhältnis zwischen den Parteien dar. Indes ist dieses erst im Anschluss an die Unterlassungsforderung der Beklagten an die Klägerin zustande gekommen, weswegen letztere nicht als Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB in Betracht kommt.

83Auch eine Haftung aus culpa in contrahendo kommt jedenfalls im Ergebnis wegen mangelnden Verschuldens nicht in Betracht (dazu im Folgenden), sofern man die Anbahnung eines Unterlassungsvertrags überhaupt unter den Tatbestand des § 311 Abs. 2 BGB fassen will.

84II.

85Mangels schuldhaftem Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb steht der Klägerin auch keine Schadensersatzforderung aus Deliktsrecht zu, § 823 Abs. 1 BGB.

861.

87Die Beklagte hat mit dem Schreiben vom 28. Juni 2017, nicht jedoch bereits mit dem Schreiben vom 31. Mai 2017, in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Beklagten eingegriffen.

88Ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist im Falle einer Schutzrechtsverwarnung dann anzunehmen, wenn der vermeintlich Berechtigte auf Grundlage eines objektiv unberechtigten gewerblichen Schutzrechtes an den Inhaber des Gewerbebetriebs ein ernsthaftes und endgültiges Unterlassungsbegehren richtet (BGH NJW-RR 1997, 1404; OLG Düsseldorf BeckRS 2011, 2161; BeckOK BGB/Förster, 68. Ed. 1.11.2023, BGB § 823 Rn. 203; BeckOGK/Spindler, 1.12.2023, BGB § 823 Rn. 223).

89a.

90Gemessen an diesem Maßstab stellt das Schreiben vom 31. Mai 2017 keinen solchen Eingriff dar. Es mangelt bereits an der Geltendmachung eines ernsthaften und endgültigen Unterlassungsbegehrens.

91Eine Aufforderung zur Unterlassung spricht das Schreiben nicht aus. Vielmehr fordert es den Empfänger zu weiteren Erklärungen auf. So heißt es auf S. 2 des Schreibens: „We should be grateful if you would you [sic!] explain the apparent contradiction in X’s position“. Weiter wird auf S. 3 unter der Überschrift „Way forward“ die Bereitstellung verschiedener, näher spezifizierter Informationen binnen 14 Tagen verlangt.

92Die anderweitige Auffassung der Klägerin kann nicht überzeugen. Soweit das Schreiben auf eine Kenntnis des Antrags auf Marktzulassung abstellt, lässt sich den Ausführungen insoweit noch kein eindeutiges Unterlassungsbegehren entnehmen. Gleiches gilt für die von der Klägerin herangezogene Formulierung: „As you are no doubt aware, our clients do not hesitate to enforce their intellectual property rights when they consider it appropriate for them to do so.“ Diese stellt zwar eine allgemeine Klagebereitschaft in den Raum. Gleichwohl ist sie weder auf ein konkretes beanstandetes Produkt noch auf ein bestimmtes Schutzrecht bezogen und enthält zudem die Einschränkung, dass ein gerichtliches Vorgehen im Einzelfall für angemessen gehalten wird, ohne dass für den Empfänger des Schreibens ersichtlich wäre, aufgrund welcher Kriterien dies im vorliegenden Fall beurteilt werden kann. Weiterer Erörterung des Schreibens vom 31. Mai 2017 bedarf es deswegen nicht.

93b.

94Das Schreiben vom 28. Juni 2017 ist dahingegen – wie zwischen den Parteien auch unstreitig – als ein solcher Eingriff einzustufen.

95Dieses zweite Schreiben fordert die Beklagte auf, von der Markteinführung von „E“-Generika-Produkten sofort Abstand zu nehmen und stellt im Falle der Nichtabgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung unmittelbar ein gerichtliches Vorgehen gegen die Beklagte in Aussicht. Die Beklagte hat dieses Unterlassungsbegehren auch auf ihre Inhaberschaft der Europäischen Patente EP X, EPXund EP X gestützt und an die Klägerin als Inhaberin eines entsprechenden auf den Vertrieb von Medikamenten gerichteten Gewerbebetriebs gerichtet.

962.

97Die mit Schreiben vom 28. Juni 2017 erfolgte Abmahnung ist auch rechtswidrig.

98Zwar ist die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht durch das Vorliegen des Eingriffs als solchem indiziert, sondern muss stets im Rahmen einer Interessen- und Güterabwägung festgestellt werden (BeckOGK/Spindler, 1.12.2023, BGB § 823 Rn. 214; MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, BGB § 823 Rn. 370). Indes ist kein legitimes Interesse eines Schutzrechtsinhabers ersichtlich, einem Wettbewerber bei nicht bestehendem Schutzrecht ernsthaft und endgültig zur – nicht geschuldeten – Unterlassung aufzufordern. Damit fällt die Interessenabwägung vorliegend zugunsten der Klägerin als zu Unrecht abgemahnter Wettbewerberin aus und die mit Schreiben vom 28. Juni 2017 erfolgte Abmahnung ist rechtswidrig.

993.

100Die Beklagte hat mit Erteilung der Abmahnung, also dem Schreiben vom 28. Juni 2017, nicht schuldhaft gehandelt.

101Verschulden im Rahmen der deliktischen Haftung setzt Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus, § 823 Abs. 1 BGB. Bezugspunkt des Vorsatzes sind diejenigen Aspekte, welche die Eigenschaft der Abmahnung als rechtswidrigen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb begründen. Vorliegend muss sich der Vorsatz demnach auch auf das spätere rückwirkende Wegfallen desjenigen Schutzrechtes, auf das die Abmahnung gestützt ist, erstrecken. Ein Vorsatz der Beklagten insoweit ist nicht ersichtlich und wird von der Klägerin bereits nicht behauptet. Die Beklagte hat indes hinsichtlich des mangelnden Rechtsbestandes der geltend gemachten Schutzrechte auch nicht fahrlässig gehandelt.

102a.

103Auch fahrlässiges Handeln lässt sich nicht feststellen.

104Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 Abs. 2 BGB. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt aber ein (vermeintlicher) Gläubiger nicht schon dann, wenn er nicht erkennt, dass seine Forderung in der Sache nicht berechtigt ist (BGHZ 179, 238, 246). Dies würde dem Gläubiger die Durchsetzung seiner Rechte unzumutbar erschweren, da seine Berechtigung nur in einem Rechtsstreit sicher zu klären ist (BGHZ 179, 238, 246; BGH GRUR 2018, 832, 841 – Ballerinaschuh). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt entspricht der Gläubiger vielmehr regelmäßig schon dann, wenn er sorgfältig prüft, ob der eigene Rechtsstandpunkt plausibel ist (BGH GRUR 2018, 832, 841 – Ballerinaschuh; vgl. BGHZ 179, 238, 246; BGH NJW 2011, 1063, 1065; NJW 2008, 1147, 1148). Dies gilt nicht nur hinsichtlich tatsächlicher Voraussetzungen des geltend gemachten Rechts, sondern auch bei einer unklaren Rechtslage (BGH GRUR 2018, 832, 841 – Ballerinaschuh; NJW 2011, 1063, 1065; Staudinger/Caspers (2019) BGB § 276, Rn. 58). Ein Schutzrechtsinhaber setzt sich deshalb im Falle einer unberechtigten Verwarnung nicht dem Vorwurf schuldhaften Handelns aus, wenn er sich seine Überzeugung durch gewissenhafte Prüfung gebildet oder wenn er sich bei seinem Vorgehen von vernünftigen und billigen Überlegungen hat leiten lassen (BGH GRUR 2018, 832, 841 – Ballerinaschuh).

105Art und Umfang der Sorgfaltspflichten desjenigen, der eine Abmahnung ausspricht, werden maßgeblich dadurch bestimmt, inwieweit er auf den Bestand seines Schutzrechtes vertrauen darf. Bei einem geprüften Schutzrecht kann vom Rechtsinhaber keine bessere Beurteilung der Rechtslage verlangt werden, als sie der Erteilungsbehörde möglich war (BGH GRUR 2018, 832, 841 – Ballerinaschuh; GRUR 2006, 432, 433 – Verwarnung aus Kennzeichenrecht II). Konkret hat der Bundesgerichtshof ein Verschulden im Falle der Abmahnung aus einem wegen des Fehlens jeglicher Unterscheidungskraft gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG im Ergebnis nicht rechtsbeständigen Markenrechts verneint, weil das DPMA dieses absolute Eintragungshindernis im Erteilungsverfahren zu prüfen hatte und der Rechtsinhaber deswegen insoweit von der Rechtsbeständigkeit seines Schutzrechts ausgehen konnte (BGH GRUR 2006, 432, 433 – Verwarnung aus Kennzeichenrecht II). Besondere Umstände mögen dem Abmahner im Einzelfall besondere Sorgfaltspflichten auferlegen (BGH GRUR 2006, 432, 433 – Verwarnung aus Kennzeichenrecht II).

106Damit im Einklang stehen die Erwägungen des Bundesgerichtshofes (BGH GRUR 2006, 219, 222 – Detektionseinrichtung II), dass jedenfalls ein auf den Bestand des Patentes gestütztes Verhalten nicht stets schuldlos ist, sondern jedenfalls derjenige Patentinhaber, der weitergehende Erkenntnisse über den Stand der Technik als die Erteilungsbehörde hat, aber diese Kenntnisse entgegen § 34 Abs. 7 PatG zurückhält, sowie der Patentinhaber, dem möglicherweise der Schutzfähigkeit entgegenstehendes Material nachträglich bekannt geworden ist und der wusste, dass dieses Material der Schutzfähigkeit des Patents entgegensteht oder der sich diese Erkenntnis in vorwerfbarer Weise verschlossen hat, schuldhaft handeln kann.

107Diese Fälle haben gemein, dass der Rechtsinhaber im fraglichen Zeitpunkt gegenüber der Erteilungsbehörde im Erteilungszeitpunkt einen Wissensvorsprung hat. Gerade dieser Wissensvorsprung als besonderer Umstand rechtfertigt es, dem Schutzrechtsinhaber im Einzelfall besondere Sorgfaltspflichten aufzuerlegen (vgl. BGH GRUR 2006, 432, 433 – Verwarnung aus Kennzeichenrecht II).

108Ein Festhalten an vorstehendem Verschuldensmaßstab ist auch vor dem Hintergrund der zwischen den Parteien diskutierten neueren Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Urt. v. 12.10.2023 – 2 U 124/22, GRUR-RS 2023, 29941 Rz. 86 ff. – Glatirameracetat) geboten. Das Oberlandesgericht hatte ein fahrlässiges Handeln bereits dann angenommen, wenn der Schutzrechtsinhaber bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können, dass ein Widerruf des geltend gemachten Patents möglich ist. Im dortigen Fall war ein Rechtsbestandsverfahren anhängig. Das Oberlandesgericht hat diese Passage nicht zur Begründung einer Haftung herangezogen. Im dort zu entscheidenden Fall ging es vielmehr um eine verschuldensunabhängige Haftung aus § 945 ZPO. Das Oberlandesgericht hat ein entsprechendes Verschulden nur deshalb geprüft und schließlich bejaht, um die Frage einer Europarechtskonformität der verschuldensunabhängigen Haftung nach § 945 ZPO vor dem Hintergrund der Enforcement-Richtlinie dahinstehenlassen zu können. Um einen solchen Sonderfall geht es hier nicht. Die entsprechenden Erwägungen sind zudem durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 11. Januar 2024, Rs. C-473/22 – Mylan AB/Gilead Sciences Finlan Oy u. a.) überholt.

109Ein Fahrlässigkeitsmaßstab im deutschen Recht, der einen Vorwurf bereits daran knüpft, dass ein Widerruf des geltend gemachten Patents möglich erscheint, überspannt jedenfalls die an den (vermeintlichen) Rechtsinhaber gestellten Anforderungen und ist abzulehnen. Dieser Maßstab würde auch eine deutliche Verschärfung der bisher in der Rechtsprechung vertretenen Verschuldensmaßstäbe darstellen, die im Ergebnis nicht gerechtfertigt ist. Vielmehr besteht insbesondere im Patentrecht, etwa aufgrund nachträglich aufgefundenen Standes der Technik, stets die Möglichkeit einer abweichenden Entscheidung in einem Rechtsbestandsverfahren. Damit liefe das Verschuldenserfordernis letztlich in diesen Fällen weitestgehend leer. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt entspricht der Gläubiger vielmehr entsprechend den zuvor geschilderten Grundsätzen schon dann, wenn er sorgfältig prüft, ob der eigene Rechtsstandpunkt plausibel, mithin vertretbar, ist. Ob ihm eine Entscheidung zu seinen Ungunsten möglich erscheint, ist – bei sorgfältig geprüftem und vertretbarem eigenem Rechtsstandpunkt – ohne Belang. Ebenfalls als solches ohne Bedeutung bleibt, ob ein Rechtsbestandsverfahren gegen das erteilte Schutzrecht anhängig ist. Vielmehr ist in der Sache zu differenzieren. Ein im Rahmen des Rechtsbestandsverfahrens gegenüber dem Schutzrechtsinhaber erfolgter Vortrag, etwa hinsichtlich neu aufgefundenem und potentiell schädlichem Stand der Technik, kann ohne weiteres nach den vorstehend geschilderten Grundsätzen neue Pflichten des Rechtsinhabers zur sorgfältigen Prüfung seines Rechtsstandpunktes auslösen, bei deren Verletzung er ab diesem Zeitpunkt fahrlässig hinsichtlich des Rechtsbestandes seines Schutzrechts handelt.

110Es bedarf im vorliegenden Fall keiner grundsätzlichen Ausführungen dazu, ob sich ein Patentinhaber stets auf die rechtliche Einschätzung der Erteilungsbehörde bezüglich der von ihr zu prüfenden Erteilungsvoraussetzungen verlassen darf (in diese Richtung deutet indes BGH GRUR 2006, 432, 433 – Verwarnung aus Kennzeichenrecht II) und im Falle einer nachfolgenden abweichenden Einschätzung – bei nach wie vor gleichem Kenntnisstand des Patentinhabers wie der Erteilungsbehörde im Zeitpunkt der Erteilung – schuldlos hinsichtlich der Fehleinschätzung des Rechtsbestandes seines Schutzrechtes ist. Denn jedenfalls wenn die Erteilungsbehörde sich konkret mit bestimmten Erteilungsvoraussetzungen beschäftigt und diese bejaht hat oder bestimmte Erteilungsvoraussetzungen gerügt wurden und die Erteilung trotzdem erfolgte, darf sich der Rechtsinhaber unter Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt auf diesen Rechtstandpunkt als vertretbar berufen. Insoweit kann von ihm keine bessere Beurteilung der Rechtslage verlangt werden, als sie der Erteilungsbehörde möglich war.

111b.

112Im vorliegenden Fall ergibt sich aus einer Gesamtschau der vorgetragenen Anhaltspunkte, dass die Beklagte auf die Rechtsbeständigkeit ihres Schutzrechtes vertrauen durfte.

113Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass im Erteilungsverfahren des EP X Dritte Einwendungen hinsichtlich der Patentierbarkeit gestützt auf einen Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 EPÜ erhoben haben. Der Gegenstand des EP X sei nicht unmittelbar und eindeutig in der Stammanmeldung offenbart. Dies betraf – zwischen den Parteien unstreitig – auch Aspekte, die letztlich im Einspruchsverfahren zum Widerruf des erteilten EP X wegen Verstoßes gegen Art. 76 Abs. 1 EPÜ führten.

114Nichtsdestotrotz hat in Ansehung dieser Umstände die Erteilungsbehörde das EP X erteilt. Soweit die Klägerin vorträgt, die Einwendungen seien, obgleich Aktenbestandteil, inhaltlich nicht geprüft worden, so gibt es hierfür keinerlei Anhaltspunkte. Hierauf kommt es auch nicht an. Vielmehr darf sich der Schutzrechtsinhaber jedenfalls hinsichtlich im Erteilungsverfahren erhobener Einwände, die eine Erteilung nicht hinderten, auf die Rechtseinschätzung der Erteilungsbehörde verlassen.

115Im Erteilungsverfahren der EPX und EP X sind zwar keine vergleichbaren Einwände erhoben worden. Indes sind die EP X, EPX und EP X sämtlich aus derselben Stammanmeldung abgezweigt. Schon mit Blick auf die im Erteilungsverfahren des EP X geltend gemachten Einwendungen konnte und musste die Beklagte damit rechnen, dass sich die Prüfungsabteilung auch hinsichtlich der von Amts wegen zu prüfenden Voraussetzungen des Art. 76 Abs. 1 EPÜ bei den EPX und EP X, die derselben Patentfamilie angehören, mit dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung auseinandersetzt, zumal eine Erteilung durch dieselben Personen erfolgte. Die Einwendungen im Erteilungsverfahren des EP X wurden auch zeitlich vor der Erteilung des EPX vorgetragen. Die Entscheidung zur Veröffentlichung des EP X datiert auf den 20. Oktober 2016, die der EPX und EP X jeweils auf den 13. April 2017. Gleiches gilt hinsichtlich des EP X. Die Gründe für den Widerruf sind, wie zwischen den Parteien unstrittig, beim EPX und EP X identisch. Darf die Beklagte als Schutzrechtsinhaberin darauf vertrauen, dass ihre Rechtsauffassung hinsichtlich des EPX– in Übereinstimmung mit der Erteilungslage – durchgreift, so gilt gleiches für sich beim EP X in identischer Weise stellenden Rechtsfragen.

116Damit durfte die Beklagte vorliegend in Übereinstimmung mit der von der Erteilungsbehörde zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung auf den Bestand ihrer Schutzrechte vertrauen. Ein Verschulden ist soweit nicht gegeben.

117Bestätigt wurde das Vertrauen der Beklagten in ihre Rechtsauffassung im vorliegenden Fall überdies dadurch, dass sie im Zeitpunkt der Abmahnung auch bereits zwei einstweilige Verfügungen mit den streitgegenständlichen Patenten erwirkt hatte.

118III.

119Der Streitwert wird auf 679.479,20 EUR festgesetzt, §§ 48 GKG, 3 ZPO.

120Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckung aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.

I