OLG Köln, Urteil vom 14.10.2011, Az. 6 U 128/11
§ 97 Abs. 1 UrhG
Das OLG Köln hat entschieden, dass die Inhaber der urheberrechtlichen Nutzungs- und Leistungsschutzrechte, die sich aus der Schaffung der „Pippi Langstrumpf“-Romane ergeben, einem Einzelhandelsdiscounter verbieten können, Werbung für Karnevalskostüme mit einem Lichtbild zu machen, welches ein als „Pippi Langstrumpf“ verkleidetes Mädchen zeigt. Die literarische Figur der „Pippi“ genieße urheberrechtlichen Schutz und die von der Antragsgegnerin verwendete Abbildung sei als unfreie Bearbeitung der literarischen Figur „Pippi Langstrumpf“ einzustufen, welche die Antragsgegnerin nur mit dem Einverständnis der Antragstellerin hätte vervielfältigen oder öffentlich zugänglich machen dürfen. Die Züge der literarischen Figur „Pippi Langstrumpf“ seien in dem angegriffenen Lichtbild deutlich sichtbar, während selbständige neue Züge kaum erkennbar seien; es handele sich daher nicht um ein neues eigenständiges Werk. Zum Volltext der Entscheidung:
Oberlandesgericht Köln
Urteil
1.)
Auf die Berufung der Antragstellerin wird das am 24.5.2011 verkündete Urteil der 33. Zivilkammer des Landgerichts Köln -33 O 71/11 – abgeändert:
Die Antragsgegnerin wird verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes, und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ordnungshaft oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten (Ordnungsgeld im Einzelfall höchstens 250.000 €; Ordnungshaft insgesamt höchstens zwei Jahre), es zu unterlassen,
ohne Einwilligung der Antragstellerin das nachstehende aufgeführte Bildnis zu vervielfältigen oder öffentlich zugänglich zu machen:
2.)
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
I.
Die Antragstellerin vertreibt unter den Bezeichnungen „Pippi“ und „Pippi Langstrumpf“ neben Merchandisingartikeln verschiedener Art unter anderem auch Karnevalskostüme. Die Antragsgegnerin ist die Einkaufs- und zentrale Servicegesellschaft eines Einzelhandelsdiscounters. Sie bezog von der Streithelferin eine Karnevalsperücke, die sie mit dem aus dem Tenor ersichtlichen Lichtbild bewarb. Die Antragstellerin stützt auf ihr zustehende Urheberrechte den Antrag, der Antragsgegnerin die Werbung mit diesem Lichtbild zu untersagen.
Das Landgericht hat auf den Widerspruch der Antragsgegnerin die zunächst antragsgemäß erlassene einstweilige Verfügung aufgehoben und den Verfügungsantrag zurückgewiesen. Mit der Berufung begehrt die Antragstellerin den erneuten Erlass der einstweiligen Verfügung; die Antragsgegnerin und ihre Streithelferin verteidigen das angefochtene Urteil.
Im Übrigen wird von der Darstellung des Sachverhalts gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1, 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.
II.
Die Berufung hat Erfolg und führt zum erneuten Erlass der einstweiligen Verfügung.
1.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts fehlt es nicht an einem Verfügungsgrund. Insbesondere ist es nicht dringlichkeitsschädlich, dass die Antragstellerin im Jahr 2009 gegen die Veröffentlichung eines Lichtbildes unter der Bezeichnung „Lilly Kunterbunt“ nicht unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten, sondern allein auf Markenrecht gestützt vorgegangen ist. Die Dringlichkeit ist nach den tatsächlichen Umständen zu beurteilen; auf rechtliche Erwägungen zur Unterscheidung verschiedener Streitgegenstände kommt es insofern nicht an. Es genügte daher, dass die Antragstellerin – wie in der mündlichen Verhandlung klargestellt worden ist – die Antragsgegnerin durch das damals erwirkte Verbot – trotz seiner Beschränkung – dazu veranlasst hat, das fragliche Produkt vollständig vom Markt zu nehmen. Damit hat die Antragstellerin ihre urheberrechtlichen Interessen gewahrt. Der Beurteilung, es sei der Antragstellerin mit der Verfolgung ihrer Urheberrechte nicht so dringend, kann der Senat daher nicht beitreten.
2.
Der Antragstellerin steht ein Unterlassungsanspruch aus § 97 Abs. 1 UrhG zu.
a)
Die Antragstellerin ist aktivlegitimiert. Sie hat hinreichend glaubhaft gemacht, Inhaberin der urheberrechtlichen Nutzungs- und Leistungsschutzrechten zu sein, die sich aus der Schaffung der „Pippi Langstrumpf“-Romane ergeben. Nach dem von der Antragstellerin in deutscher Übersetzung vorgelegten Vertrag hat die Autorin der „Pippi Langstrumpf“-Romane, Astrid Lindgren, der Antragstellerin den gesamten Gewerbebetrieb, der auf ihrem literarischen Schaffen beruht, überlassen (Ziff. 2.1 des Vertrags), einschließlich der „Aktiva, Verträge, Rechte und Pflichten“ (Ziff. 3.1). Die Antragsgegnerin und insbesondere ihre Streithelferin haben zwar etliche Zweifel aufgezeigt, dass damit wirksam die Rechte zur Nutzung und zum Leistungsschutz am Werk Astrid Lindgrens übertragen worden sind. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, die für die Glaubhaftmachung ausreichend ist, spricht aber gleichwohl für eine wirksame Rechtsübertragung. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Antragstellerin zum einen selbst Artikel unter den Bezeichnungen „Pippi“ und „Pippi Langstrumpf“ vertreibt (die entsprechende Feststellung des Landgerichts haben die Antragsgegnerin und ihre Streithelferin nicht angegriffen) und zum anderen aus diesen Rechten in zahlreichen gerichtlichen Verfahren erfolgreich gegen Dritte vorgegangen ist. Dies wäre kaum erklärlich, wenn der Antragstellerin durch die fraglichen Verträge nicht die Rechte an dem Werk Astrid Lindgrens eingeräumt worden wären.
b)
Die literarische Figur „Pippi Langstrumpf“ genießt urheberrechtlichen Schutz. Ein Sprachwerk gemäß § 2 Nr. 1 UrhG kann nicht nur hinsichtlich des Textes selbst Schutz genießen; geschützt ist vielmehr auch der Werkinhalt, einschließlich besonders gestalteter Figuren (Schricker/Loewenheim, UrhG, 4. Aufl., § 2 Rdn. 58; Axel Nordemann in Fromm/Nordemann, UrhG, 10. Aufl., § 2 Rdn. 102). Eine solche Figur muss „eine unverwechselbare Kombination äußerer Merkmale sowie von Eigenschaften, Fähigkeiten und typischen Verhaltensweisen besitz[en], aus denen besonders ausgeprägte Persönlichkeiten geformt sind, die jeweils in charakteristischer Weise auftreten“ (Nordemann, aaO.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Figur „Pippi Langstrumpf“. Sie wird im ersten Band der Romane wie folgt beschrieben:
„Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie eine Möhre und war in zwei feste Zöpfe geflochten, die vom Kopf abstanden. Ihre Nase hatte dieselbe Form wie eine ganz kleine Kartoffel und war völlig mit Sommersprossen übersät. Unter der Nase saß ein wirklich riesig breiter Mund mit gesunden weißen Zähnen. Ihr Kleid war sehr komisch. Pippi hatte es selbst genäht. Es war wunderschön gelb; aber weil der Stoff nicht gereicht hatte, war es kurz, und so guckte eine blaue Hose mit weißen Punkten darunter hervor. An ihren langen dünnen Beinen hatte sie ein Paar lange Strümpfe, einen geringelten und einen schwarzen.“
Auch die äußeren Lebensumstände sind (auf den ersten Blick) erbärmlich: die Mutter lebt nicht mehr, der Vater ist weit entfernt auf dem Meer unterwegs. In krassem Kontrast hierzu stehen aber die weiteren Merkmale der Figur. „Pippi Langstrumpf“ ist stets fröhlich, sehr vermögend, verfügt über übermenschliche Kräfte und ist von ausgeprägter Furcht- und Respektlosigkeit gepaart mit Fantasie und Wortwitz. Damit hat Astrid Lindgren eine einmalige Figur geschaffen, die die genannten Wesenszüge durch alle Geschichten unverkennbar beibehält und sich von den bis dahin bekannten Figuren deutlich abhebt. Die Figur „Pippi Langstrumpf“ verfügt über eine beachtliche Schöpfungshöhe.
c)
Die von der Antragsgegnerin verwendete Abbildung ist eine unfreie Bearbeitung der literarischen Figur „Pippi Langstrumpf“, § 23 UrhG, die die Antragsgegnerin nur dem Einverständnis der Antragstellerin hätte vervielfältigen oder öffentlich zugänglich machen dürfen.
Bei der Frage, ob in freier Benutzung eines geschützten älteren Werks ein selbstständiges neues Werk im Sinne des § 24 UrhG geschaffen worden ist, kommt es entscheidend auf den Abstand an, den das neue Werk zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes hält. Eine freie Benutzung setzt voraus, dass angesichts der Eigenart des neuen Werks die entlehnten eigenpersönlichen Züge des geschützten älteren Werks verblassen. In der Regel geschieht dies dadurch, dass die dem geschützten älteren Werk entlehnten eigenpersönlichen Züge in dem neuen Werk in der Weise zurücktreten, dass das neue Werk nicht mehr in relevantem Umfang das ältere benutzt, so dass dieses nur noch als Anregung zu neuem, selbständigem Werkschaffen erscheint (BGH GRUR 2002, 799, 800 f. – Stadtbahnfahrzeug). Hierzu ist ein umso größerer Abstand von dem älteren Werk erforderlich, je stärkere eigenschöpferische, individuelle Züge das Original enthält (vgl. Dreier/Schulze, UrhG, § 24 Rdn. 8).
Nach diesen Maßstäben kann eine eigenständige Neuschöpfung nicht angenommen werden. Das angegriffene Bild zeigt ein Mädchen, das sich als „Pippi Langstrumpf“ verkleidet hat. Es unterliegt – wie in der mündlichen Verhandlung (weitgehend einvernehmlich) erörtert – keinem Zweifel, dass das abgebildete Mädchen nicht „Pippi Langstrumpf“ ist, aber „Pippi Langstrumpf“ darstellen möchte. Die Haare sind rot und zu Zöpfen geflochten, das Gesicht ist mit Sommersprossen übersät und das Kleid komisch und „kunterbunt“. In dieser Übertragung der literarischen Figur in die bildliche Darstellung eines „normalen“, eher brav wirkenden Mädchens liegt zwar eine Bearbeitung, deren eigenschöpferische Züge treten jedoch ganz hinter die Züge der literarischen Figur zurück. Denn der Gedanke, dass ein beliebiges Mädchen in die Rolle der „Pippi Langstrumpf“ schlüpft, ist nicht neu, sondern bereits in der Erzählung angelegt. Gerade Kinderbücher sind darauf ausgelegt, dass sich der junge Leser/Zuhörer mit dem Protagonisten der Erzählung identifiziert. Es war auch bereits zu Zeiten der Schöpfung „Pippi Langstrumpfs“ so, dass Kinder z.B. Cowboy und Indianer nach den literarischen Vorbildern Karl Mays gespielt haben. Auch Verkleidungen liegen dabei nicht fern. Solche Identifizierungsmöglichkeiten machen den Reiz insbesondere von Kinder- und Jugendbüchern aus und tragen erheblich zum Erfolg und der Beliebtheit dieser Bücher bei. Die Abbildung eines „Pippi Langstrumpf“ lediglich darstellenden Mädchens beinhaltet deshalb keine Leistung, die die eigenschöpferischen Züge des „Originals“ verblassen ließe. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass die Charakterzüge der Romanfigur in der bildlichen Darstellung (naturgemäß) nicht erkennbar sind. Denn eine unfreie Bearbeitung setzt nicht eine vollständige Kopie voraus. Es genügt, dass einzelne Werkbestandteile übernommen werden, wenn diese schöpferische Eigenart aufweisen (vgl. Wandtke/Bullinger, UrhG, 3. Aufl., § 24 Rdn. 9). Dies ist bei dem von der Autorin erdachten Äußeren der Fall. Astrid Lindgren hat sich nicht darauf beschränkt, das Äußere der Figur als komisch zu bezeichnen, sondern dieses detailliert beschrieben. Es bleibt insofern bei der bildlichen Umsetzung (graphisch oder als Lichtbild) zwar ein gewisser Gestaltungsspielraum. Die markanten Merkmale der Mädchen-Figur, insbesondere die leuchtend roten Zöpfe und die Sommersprossen, finden sich aber in allen Darstellungen einer „Pippi Langstrumpf“. Demgegenüber sind eigenschöpferische gestalterische Leistungen bei der Schaffung des Lichtbildes kaum zu erkennen und verblassen damit hinter den Zügen des benutzten Werks.
Ohne Erfolg macht die Antragsgegnerin geltend, die bildliche Darstellung einer „Pippi Langstrumpf“ könne nicht eine (unfreie) Bearbeitung des literarischen Textes sein. Zu Recht weisen die Antragsgegnerin und ihre Streithelferin allerdings darauf hin, dass grundsätzlich die Übertragung eines Werks in eine andere Werkart als freie Bearbeitung zu werten ist (vgl. Axel Nordemann in: Fromm /Nordemann, 10 Aufl., §§ 23, 24 Rdn. 39). Dies bedeutet aber nicht, dass insofern die allgemeinen Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob eine freie Bearbeitung vorliegt, nicht zur Anwendung kämen. Vielmehr ist der genannte Grundsatz das Ergebnis der Anwendung gerade dieser Kriterien. Denn es ist kaum vorstellbar, dass etwa ein Gedicht vertont oder ein Gemälde nach einer Symphonie gemalt wird, ohne dass der „Bearbeiter“ sich mit der Vorlage auseinandersetzt und schöpferisch tätig wird und daher die eigenschöpferischen Züge des älteren Werks angesichts der so geschaffenen Eigenart des neuen Werks verblassen. So liegt es hier aber nicht. Die eigenschöpferische Leistung bei der Schaffung des Lichtbildes beschränkt sich – wie ausgeführt – neben der Übertragung auf ein beliebiges Mädchen im Wesentlichen darauf, die Romanfigur sichtbar zu machen. Dies ist aber – wie sich bereits aus dem oben Gesagten ergibt – keine wesentliche schöpferische Leistung. Es ist bereits im Werk der Urheberin angelegt, dass sich der Leser ein Bild von der Romanfigur macht. Dabei hat die Autorin präzise Vorgaben für dieses Bild gemacht. Es gehört daher wenig dazu, dieses Bild sichtbar zu machen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem „Sherlock Holmes“-Urteil des Bundesgerichtshofs (GRUR 1958, 354). Dort hat der Bundesgerichtshof eine abhängige Nachschöpfung bereits aufgrund des Grades der Selbständigkeit und Eigenart des neuen Werks verneint. Die Frage, ob allein die Übernahme des äußeren Erscheinungsbildes eine Benutzung eines vorbestehenden Werks sein kann, hat der Bundesgerichtshof offengelassen.
Die notwendige Gesamtbetrachtung führt danach zu dem Ergebnis, dass die eigenschöpferischen Züge der Figur „Pippi Langstrumpf“ in dem angegriffenen Lichtbild deutlich sichtbar sind, während selbständige neue Züge kaum erkennbar sind; es handelt sich daher nicht um ein neues eigenständiges Werk im Sinne des § 24 UrhG, sondern um eine unfreie Bearbeitung nach § 23 UrhG.
III.
1.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
2.
Das Urteil ist gemäß § 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit seiner Verkündung rechtskräftig.
3.
Gegenstandswert für das Berufungsverfahren: 150.000 €.
Vorinstanz:
LG Köln, Az. 33 O 71/11